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Ausgabe:

1975

Spalte:

757-761

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Betz, Hans Dieter

Titel/Untertitel:

Der Apostel Paulus und die sokratische Tradition 1975

Rezensent:

Meyer, Thomas

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Theologische Literaturzeitung 100. Jahrgang 1975 Nr. 10

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Betz, E(U] Dieter: Der Apostel Paulus und die sokratische
Tradition. Kine exegetische Untersuchung zu seiner „Apologie
" 2 Korinther 10-13. Tübingen: Mohr l»72. IV, 157 S.
8° = Beitrage zur historischen Theologie, hrsg. v. G.Ebe-
liug, 45. DM 34,—.

Während weithin Einigkeit darüber besteht, daß
2 Kor 10 -13 als gesonderte Schrift anzuseilen ist, als
.Verteidigung' gegen korinthische Widersacher des
Apostels, ist die Interpretation dieses Textes trotz vielfältiger
Bemühungen auf einein unbefriedigenden Stand
geblieben. IT. D. Betz sieht den wichtigsten Grund dieser
Misere darin, daß von einem falschen hernieneutischen
Vorverständnis ausgegangen wird: man bet rachtet den
Text lediglich im Kontext biblischer oder bibelnaller
'I exte und versäumt es, die Anschauungen und Aus-
drueksformen zu berücksichtigen, die zur Zeit des
Apostels gang und gäbe waren und die insbesondere einer
Gemeinde wie der korinthischen geläufig sein mußten.

Betz geht so vor, daß er mich einem kurzen Referat
der ForschungSgescHchte und einer Darstellung der
Entwicklung des Verhältnisses Pauli zur korinthischen
Gemeinde sich erst mit dem formgeschichtliehen Aspekt
des Textes, dann mit den streitenden Parteien,
ihren Standpunkten und Argtunentationsweisen, schließlich
mit den inneren Beziehungen zwischen dem griechischen
Humanismus und der Anthropologie des Apostels
befaßt.

1. In dem Kapitel über die formgeschichtlichen Zusammenhänge
geht Betz zunächst der Frage nach, ob es
wich in dem „Vierkapitelbrief" 2 Kor 10-13 um Teile des
„Träncnbriefs" handeln könne, von dem 2Kor2,4:
7,8 12 die Rede ist;1 die Frage wird entschieden verneint
, mit guten Gründen, insbesondere der Feststellung
, „daß in 2Kor 10-13 von .Tränen', .Trauer' und
.Betrübnis' keine Rede ist. Im Gegenteil, der Ton des
Fragments schließt dies geradezu aus. Paulus setzt
schonungslos die Mittel der Ironie und des Sarkasmus
ein, um seine Gegner als Gehilfen des Satans zu entlarven
" (13; vgl. auch 42)2. Was vorliegt, ist nicht ein
.,Tränenbrief", sondern eine Apologie.

Das .Merkwürdige ist nun. daß der Apostel, obwohl er
doch augenscheinlich eine Apologie liefert, es von sich
weist, dies zu tun (12,19). Betz erklärt diese Stellungnahme
vom ,Vorbild' der platonischen Apologie des
Sokrates her: Sokrates lehnt es dort ab, im landläufigen
Sinn sich zu ,verteidigen' - nämlich mit Hilfe von rhetorischen
Kniffen und Rührszenen , und doch verteidigt
er sich, jedoch in einer Weise, die der Wahrheit und nur
i hl verpflichtet ist.

Diese Gegenüberstellung von Philosoph und Bhetor
durchzieht nun, wie Vf. an einer Reihe von Beispielen
■•igt, die sokratisch-kynische Literatur. Dabei erweitert
«ich der Begriff des (täuschenden) Hhetors um die Nuance
der Scharlatanerie in religiösen Dingen: ein solcher
Bei rüger wird als ,Goet' bezeichnet und ein solcher ist
l'aulus nach Meinung seiner korinthischen Gegner. Vf.
'■•'igt nun. wie Paulus die im Kampf um die Entlarvung
Von (bieten üblic hen Waffen benutzt, um seinerseits als
:l|if der Seite der Wahrheit stehend zu erscheinen, wäh-
r«nd es die Gegner sind, die sich als Goeten entpuppen3.

2. Die Analyse der .Anklage' (10,10) wie der Verteidigung
erbringt eine Fülle weiterer Beziehungen zu Form
"od Topik der Auseinandersetzung zwischen Philo-
sophie und Goetie. Ks zeigt sieh, daß Paulus mit tradi-
tionelletweise ambivalenten Begriffen arbeitet, wenn er
Wort,, wie tKiiivik, :int>t)ih ttXjtäy usw. gebraucht,
"od daß auch seine Technik der Verteidigung bzw. Widerlegung
ihn Wurzeln in der Sokratik hat: z.B. ggf.

Anklagen nic ht zu best reiten, ihre Argumente jedoch,
wi" hier das der .Schwäche' und des selbstsicheren

.Wagens', in andere Beleuchtung - nämlich positive
zu rücken und so über eine .Umwertung der Werte' zu
einer Rechtfertigung gegenüber den Anklagen zu
kommen.

Dieses Verfahren wird augewandt in der Auseinander
setzung mit den Vorwürfen gegen Person und .Logos'
des Apostels; es erfährt eine weitere Bereicherung bei
der Antwort auf die Forderung, „Testimonien religiös-
,übernatürlicher' Erfahrungen" (73) vorzulegen, eine
,Zeichenforderung', die - so darf vermutet werden von
denselben Gegnern ausging, l'aulus übernimmt die
Rolle des ,Narren', um aussprechen zu können, was nach
den Anschauungen der Rhetorik vom normal-vernünftigen
Menschen nicht ausgesprochen werden konnte, ohne
daß er sich dem Vorwurf unerträglicher Selbstglori-
fizierung ausgesetzt hätte. Auch die ,Narrenrede' hat
ihren Ursprung in der Sokratik; sie ist im Mimus, in der
Popularphilosophie wie auch in Senecas Apocolocyn-
tosis zu finden. Ihre Interpretation bringt freilich eine
Fülle von Problemen mit sich, da mit Ironie und Sarkasmus
, also mit kunstvoller Verkehrung des wirklich Gemeinten
zu rechnen ist. In 122~4 und 7b_1° sieht Betz
Parodien: die einer ,Himmelfahrt' und eines ,Heilungs-
wunders'. Dadurch, daß die erwartete Pointe ausfällt -
Mitteilung der ,aussprechlichen Worte' und Heilung von
dem ,Pfahl im Fleisch' - sollen nach Meinung des Vf.s
die Korinther zu der Erkenntnis geführt werden, daß
„die von den Gegnern naiv vorausgesetzte Deckungsgleichheit
von ,Erfahrung', ,Bericht von Erfahrung' und
,Evidenz für die Wahrheit der Erfahrung'" (94) zu
literarischem Formalismus und religiöser Scharlatanerie
führt. Der Fehler seiner Gegner ist derselbe wie der der
sophistischen Gegner des Sokrates: sie nehmen äußeren
.Erfolg' einfach als Beweis der Wahrheit ihrer Lehren
(94).

Auch in der Frage der finanziellen Unterstützung
durch die Gemeinde zeigen sich vielerlei Parallelen zur
Sokratik: wie es der wahre Philosoph ablehnt, um Geld
zu unterrichten, wie es andererseits der Scheinphilosoph
auf die Börsen seiner Zuhörer, abgesehen hat, so kommen
die Gegner, da sie sich von der korinthischen Gemeinde
aushalten lassen, auf die Seite der Goeten zu stehen, während
Paulus ebenso selbstverständlich auf der Seite des
Philosophen steht, da er - nicht von ungefähr gerade in
Korinth - auf Unterhalt verzichtet hat.

Auch bei der Vergleichung mit anderen Aposteln gebraucht
Paulus eine Form der Rhetorik: die Synkrisis.
Zur Topik der Vergleichung seiner selbst mit anderen
gehört das Zugeständnis der eigenen Nichtigkeit;
ja auch Pauli Vorwurf, die Gegner verglichen sich mit
sich selbst, findet seine Parallele in der Popularphilosophie
.

Die Frage der Legitimität, die dem Apostel bestritten
wird, ist gleichfalls auf der Folie der Sokratik zu sehen.
Wie im sokratischen Dialog die Frage nach dem .Wissen'
des Sokrates auf die nach der Position des Gesprächspartners
verlagert wird, so gibt Paulus die Frage nach der
Legitimität seines Apostolats an die Gemeinde zurück.
Bi ist wieder ein somatischer Zug! seine Absicht, die
korinthischen .Gesprächspartner' zu verunsichern und
„bereit zu machen, die Frage, die sie bereits beant wortet
hatten, noch einmal kritisch zu überdenken" (133). Für-
Paulus ist im Unterschied zu seinen Gegnern ,Evidenz
des Christlichen' nicht etwa dadurch zu gewinnen, daß
ein Mensch augenscheinlich den Bereich menschlicher
Schwäche zumindest partiell verläßt, vielmehr durch
die Erkenntnis, daß sich die ,Kraft Gottes' in seiner
&y&tn manifestiert.

3. Mit seinem Ausgehen von der menschlichen Nichtigkeit
und seiner Reflexion auf das richtige .Maß' nun
stellt sich Paulus, wie im letzten Kapitel ausgeführt