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Ausgabe:

1975

Spalte:

710-711

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

King, Martin Luther

Titel/Untertitel:

Testament der Hoffnung 1975

Rezensent:

Kretzschmar, Gottfried

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Seite 1, Seite 2

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Theologische UttingIII uljung 100. Jahrgang 1975 Nr. 9

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Grundsatzerwägungen Anregungen für ihre Arbeit vermitteln
möchte (11). Diese Zielstellungen werden in
den sehr anregenden, gut lesbaren und mit weiterführenden
Literatvirangaben versehenen Abhandlungen
erreicht. Angesichts extremer Gegensätze, die das
Oespräch der Praktischen Theologen in der BRD
erschweren, dürfte das Bemühen des Göttinger Theologen
, falsche Alternativen zu überwinden, hilfreich sein.
Das Buch kann deshalb nicht nur in die Diskussion
einführen, sondern sie auch an wichtigen Punkten weile
r führen.

Die Konfrontation mit zu überwindenden Alternativen
wird jeweils in den Untertiteln der Beiträge anvisiert
. Kapitel 1 über den Pfarrer in der Gesellschaft
trägt den Untertitel: „Religiöser Repräsentant oder
politischer Informant ?" Dieser Untertitel klingt sehr
„westlich", die Ausführung enthält aber Thesen, die
nielit an den konkreten politischen Hintergrund gebunden
sind: Ks wird in Zukunft weder ein einheitliches
Mild von der Rolle noch ein einheitliches Modell für die
Arbeit des Pfarrers geben (27). „Die Identitätskrise,
die mit der Nicht-Eindeutigkeit seiner Rolle gegeben
ist, ist nicht zu beheben" (28). Der Pfarrer muß lernen,
damit wie mit dem fortwährenden Wandel seines Bc-
rufssystems fortig zu werden. „Diese Aufgabe teilt er
mit den meisten anderen Berufen." Sein besonderes
Problom besteht darin, „daß für immer mein- .Menschen
seine Arbeit immer weniger wichtig wird" (29). Die angesichts
dieser Probleme nötigen Hilfen werden nur
angedeutet (mehr Praxisnahe im Studium; Seelsorge
für Seelsorger in neuen Kommunikationsformen).

Die Kap. 2 und 3 sind der Predigt und dem Prediger
gewidmet. Vollzieht sich „die Öffentlichkeit der
Verkündigung" (Kap. 2) durch „Proklamation in der
Predigt oder Information durch die Massenmedien" ?
Die Alternative wird mit de Quervains These von der
Predigt als der eigentlichen Öffentlichen Handlung
einerseits und Bahrs „Verkündigung als Information"
andererseits vorgeführt. Josuttis kritisiert Bahrs Programm
unter inhaltlichem und kommunikationstheoretischem
Aspekt: Inhaltlich werde Verkündigung als
Information bedeutungslos, wenn sie nur zu sagen hat,
was die Öffentlichkeit „aus ihrer humanen Selbstbesinnung
schon weiß" (57); kommunikationstheoretisoh
sei erwiesen, daß „die entscheidenden Prozesse von
Meinung«- und Verhaltensänderung der Menschen fast
ausschließlieh in interpersonalen Kontakten" verlaufen
(62). — Kap. 3 fragt nach dem Ich des Predigers in
der Predigt. Nach einer Auseinandersetzung mit theologischen
und außertheologischen Gründen gegen das
Tch auf der Kanzel tritt Josuttis für das Ich-Sagen ein:
„Gewiß kann das Ich-Sagen Ausdruck menschlichen
Hochmuts, aber ebenso das Unterlassen des Ich-Sagens
Anzeichen menschlicher Trägheit sein. Wie sich die Ich-
Neurose in einer Ich-Übersteigerung, aber auch in einer
Ich-Schwäche niederschlägt, so kann der Verzicht auf
den Ich-Gebrauch Kennzeichen christlicher .Verlotterung
' sein" (82). Das Ich-Sagen kann der einzelne nur
in der Gemeinschaft lernen. Hilfen dazu sollte schon
der Student erhalten, zumal es um den Zeugnischarakter
der Predigt geht. Die Wahrheit des Zeugnisses kann
nicht mit der Erfahrung des Zeugen bewiesen werden
(das würde J. das verifikatorische Ich nennen), aber
der Prediger kann die Wahrheit im konfessorischen,
biographischen, repräsentativen oder exemplarischen
Ich bezeugen (92f.). In Betracht kommt avich das fiktive
Ich als Stilmittel: es wird „vom Autor erfunden, um
aus einer spezifischen Perspektive berichten zu können".

Zwei weitere Kapitel wenden sich der Seelsorge
zu: „Die Ziele der seelsorgerlichen Beratung" (Kap. 4)
und „Der Sinn der Krankheit" (Kap. 5). Thurneysen,

Uhsadel und Clinebell werden als typische Vertreter
verschiedener Ansätze dor Seelsorgelehre vorgestellt.
Josuttis eigener Leitsatz lautet: „Seelsorge ist Praxis
des Evangeliums in der Form beratender und heilender
Lebenshilfe mit dem Ziel der Befreiung des Menschen
aus der konkreten Not seiner jeweiligen Lebensverhältnisse
" (109). Er kann das Ziel auch so formulieren:
„Der Mensch soll in der soelsorgerlichen Beratung sein
Ich entdecken und leben lornen" (114). Das kann er nur
in der Gemeinschaft mit anderen, aber als ein Mensch,
der nicht „aus den Fesseln des Ich in das Gefängnis der
Gruppe" geführt wird. Das Ziel der S <elsorge kann deshalb
durch die Alternative „Integration oder Emanzipation
?" nicht adäquat ausgedrückt werden. — Kap. 5
greift mit der Frage nach Ergebung oder Protest angesichts
der Krankheit ein Thema der speziellen Seelsorge
auf. Die Sinngebung der Krankheit vom Glauben
her lehnt Josuttis ab als „Versuch, sich dem Elend der
eigenen Lage durch das Postulat eines religiösen Sinns
zu entziohen" (122). Es überrascht, wie apodiktisch der
sonst recht abwägend argumentierende Vf. hier urteilt:
„Der christliche Glaube verzichtet darauf, In der Erkrankung
den Willen Gottes am Werk zu sehen" (128).
Seine Abneigung gegen alle Versuche der Sinngebung
ist so stark, daß er einfach „den christlichen Glauben"
schlechthin für seine Meinung reklamiert und schwerstes
dogmatisches Geschütz auffährt, indem er die
christliche Sinndoutung der Krankheit als „Werk der
Selbstorlösung aus der Sinnlosigkeit" (129) verwirft.
„Der christliche Glaube ist von einer solchen Ilalinne
um Welten geschieden" (I). Der positive Sinn dieser
Attacken wird S. 133 deutlich: „Der Sinn der Krankheit
ist ihre Überwindung". Kann aber die verworfene
Sinndeutung nicht zur Überwindung beitragen 1 Josuttis
will keinem Kranken im Wege sein, der mit Hilfe der
Sinngebung sein Leiden zu bewältigen sucht. Ich sehe
deshalb den Sinn der behaupteten Sinnlosigkeit nicht
ein. Klar ist, daß die Sinngebung weder vom Patienten
als Leistung gefordert noch als Lähmung des Willens
zur Genesung wirksam werden darf. Was dann dogmatisch
oder psychologisch gegen Versuche der Sinngebung
sprechen soll, verstehe ich nicht.

Kap. fl und 7 behandeln aktuelle Fragen der Litur-
gik. Ist „das Ziel des Gottesdienstes" Aktion oder
Feier (Kap. 6) 1 Josuttis skizziert vier Interpretationen
des Gottesdienstes in den protestantischen Kirchen
heute: 1. das kultische Gottesdienst Verständnis; 2. das
kerygmatische; 3. das politische und 4. das kreative
Gottesdienstverständnis. In diesen verschiedenen Ansätzen
konkurrieren nicht nur formale und methodische
Konzepte, sondern unterschiedliche Grundauffassungen
von Evangelium, Kirche und Gottesdienst. Deshalb
ist das Pluralismus-Konzept keine Lösung. Josuttis
empfiehlt zur Konflikt lösung den „Refiexionsdialog",
dem es darum geht, „den anderen und mit ihm sich
selber, und in beiden) die Sache, um die es geht",
besser zu verstehen (150). Dieser Dialog setzt eine
eigene Position voraus, die der Autor in Auseinandersetzung
mit den genannten Konzeptionen entwirft. In
der Einschätzung des kultischen Gottesdienstverständnisses
behauptet er vorschnell und pauschal einen Widerspruch
zur Rechtfert igungslehre (158), urteilt sonst aber
verständnisvoll und erliegt keinen falschen Alternativen.
Der politische Gottesdienst ist nötig, weil das Evangelium
mit der Wirklichkeit der politischen Welt zu tun
haben will; er darf sich aber nicht gesetzlich absolut
setzen, denn „der Gottesdienst hat seinen Sinn auch
in sich selbst" (161). Die Gemeinde „findet und konstituiert
im Gottesdienst ihre Identität, so wie jede
Gruppe . . . sich selbst findet und verwirklicht in der
Gemeinschaft". Nicht mir sozialpsychologisch, sondern