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Ausgabe:

1975

Spalte:

633-636

Kategorie:

Interkulturelle Theologie, Missionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Manecke, Dieter

Titel/Untertitel:

Mission als Zeugendienst 1975

Rezensent:

Kimme, August

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Theologische Literaturzeitung 100. Jahrgang 1975 Nr. 8

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wuchern einer ursprünglich einzigen „missa in mona-
sterio" (bezeugt durch ein einziges Formular im altgela-
sianischen Sakramentar), wie es durch den frommen
Subjektivismus der Zelebranten verursacht sei. Doch mag
es im 6. und 7. Jh. in Rom oder im 8. Jh. im Frankenreich
so etwas wie „Hausmessen" in den Klöstern auch gegeben
haben, in der durch die späteren Sakramentare
des Frankenreiches belegten offiziellen Klosterliturgie
kennt man sie nicht, womit der Ausgangspunkt für die
landläufige Erklärung hinfällig wird. Auch andere Meßfeiern
wie Votiv-, Totenmessen u. ähnl. reichen nicht aus,
die Messenhäufung und nun gar das tägliche Messensystem
in den fränkischen Klöstern zu erklären. Vf. weist
demgegenüber nach, daß diese Entwicklung in einem
Leitbild der frühmittelalterlichen normativen Liturgie
begründet ist, das bei gleichem Ritual und vielleicht gleicher
Häufigkeit der Messen doch ein ganz anderes ist wie
das des 13. oder gar des 19. Jh. Die Feier der Eucharistie
in den fränkischen monastischen Klöstern des frühen
Mittelalters ist nämlich „ein Teil der nach dem Muster
einer autonomen Kirchenstadt, genauer: der Stadtkirche
Rom, autark verstandenen und konzipierten Klosterliturgie
" (346). Ihr System von Hauptmesse (Konventamt)
und Nebenmessen (die Bezeichnung „Privatmessen" ist
für das frühe Mittelalter mißverständlich, weil solche
Nebenmessen damals fern aller subjektiven Beliebigkeit
und als Teil einer einzigen Liturgiefeier zelebriert werden
; darum besser als der Hauptmesse „nachgeordnete"
Messen zu bezeichnen) entspricht dem Messensystem der
Kirche Roms mit der Hauptmesse des Stationsgottes-
dienstes und den nachgeordneten Feiern in den Titelkirchen
und Martyrermemorien. In dieses Messensystem hat
man auch die vielfältig begründeten Messen im kleinen
Kreis oder auch eines Priesters allein (als „Funktionär
des unsichtbar gegenwärtig gedachten Gesamtkirchenor-
ganismus") einfügen können. Die Zunahme der Heiligenfeste
und überhaupt der Wunsch, allen Heiligen auf der
ganzen Welt gerecht zu werden, haben schließlich über
das römische Vorbild hinaus zur Täglichkeit des Messensystems
geführt. Nicht ohne Wirkung darauf mögen zwei
Dekrete Papst Gregors III. (731—741) geblieben sein — Vf.
fügt sie im Anhang bei —, die ein tägliches Messensystem
für die beiden römischen Hauptkirchen der Apostelfürsten
festlegen. Falsch gestellt wäre nun aber die Frage
nach dem „Initiator", dem „Erfinder" des Messensystems
der fränkischen Klosterliturgie (329). Es ist vielmehr
eine der wichtigen grundsätzlichen Erkenntnisse
des Vf.s: „Je nach der gesellschaftlichen Struktur können
derartige Neuerungen sich fast unmerklich vorbereiten
, dann aber plötzlich auftreten und weithin, was die
Person eines .Erfinders' betrifft, anonym bleiben. Das
ist ausdrücklich im Frühmittelalter so, wo der einzelne
als Glied einer verfaßten Gesellschaft dient" (330); das
wird am Auftreten der karolingischen Minuskel und an
der Ausbreitung der heutigen „Gemeinschaftsmesse"
veranschaulicht. Zu höchster Wahrscheinlichkeit kann es
Vf. trotzdem erheben, „daß an der Hofkapelle Karls des
Großen ... diese hohe Form der fränkisch-römischen Liturgie
ihre vorbildhafte Ausprägung gewann. In Alkuin
darf der Kopf vermutet werden, der die Traditionselemente
in eine neue Sicht integrierte (nämlich als Idealform
der Liturgie Roms, da Romverehrung zeitgenössischer
Ausdruck christlichen Lebens ist. Rez.) und auch
auf diesem Gebiet dem ordnenden Walten Karls die
wegweisende Theorie wies" (346 f.) Alkuins Schüler und
Freund Angilbert, der Abt des Reichsklosters Centula,
hat dann für seine Abtei das neue Konzept der euchari-
stischen Klosterliturgie mustergültig formuliert. Diese
klösterliche Liturgiefeier in Form eines ganzen Systems
von Messen blieb dann bis zum II. Vaticanum liturgisches
Leitbild. Ihre geschichtliche und theologische Begründung
weist Vf. nach in der Sozialfunktion der in die Feu-

daigesellschaft des Karolingerreiches integrierten Abtei,
die „richtige", nämlich stadtrömische Liturgie zu feiern,
die den Bestand der Herrschaft des gesalbten und geweihten
Königs und damit die Wohlfahrt der Seinen begründet
und sichert. Das aber setzt ein Mönchtum voraus
, das, ohne viel Rücksicht auf seine innere Sinngebung
, zum Funktionär der staatskirchlichen Öffentlichkeit
geworden ist (339). Doch gerade diese Begründung
ging, „wenn überhaupt je explizit erhoben, schon bald,
noch im Mittelalter verloren" (347).

Dieses hier nur in der gebotenen Kürze umrissene Ergebnis
führt zu dem abschließenden Kapitel VIII „Würdigung
und offene Fragen". Die Tatsache, daß aus der
Geschichte der Liturgie hier einige nicht unwichtige Details
des Lebens der Kreise um Karl den Großen erhoben
werden konnten, macht den Appell des Vf.s an die mediävistische
Forschung verständlich, den Umkreis Ihrer
Arbeit auch auf die Liturgie der Kirche auszuweiten.
Weiterhin stellt Vf. fest: Trotzdem das Messensystem der
frühmittelalterlichen Klosterliturgie sich als „Kopie" des
Gottesdienstsystems der römischen Stadtkirche gibt, bedeutet
es eine eigenständige Leistung, indem es eine
Vielzahl von geschichtlich vorgegebenen Motiven souverän
adaptiert, so daß es auf lange Zeit in der abendländischen
Kirche ohne Konkurrenz bleibt. Indem es der
Einzelfeier ihren präzisen Ort innerhalb eines sinnbe-
stimmten Ganzen zuweist, wehrt es der Gefahr einer
Häufung der Kultakte nur um ihrer großen Zahl willen.
Entscheidend für die Wertung dieses Liturgiesystems ist
aber die ihm zugrunde liegende Erfahrung von „Kirche"
als „über das Land verteilter, in einzelnen Zentren, die
zugleich Heiligtümer, Kulturzentren und Burgen sind,
ständisch gegliederter, von einer Adelsgruppe regierter
, im König gipfelnder Gesellschaft" (351). Diese ganze
fränkische Kirche wird als solche zur Trägerin der an
vielen Orten gefeierten Liturgie. „Die Präsenz einer plebs
sancta ... bleibt für die Liturgie selbst nur ein schmük-
kendes Akzidenz" (351 f.). Dennoch darf man die so gefeierte
Liturgie nicht als „Klerusliturgie" abqualifizieren
, da potentiell jeder Christ an der Liturgie, wie sie in
den Zentren des Reiches gefeiert wurde, mitbeteiligt ist.
..Erst im Hochmittelalter, als das Konzept der frühmittelalterlichen
Klosterliturgie ausgehöhlt ward, weil die
Erfahrung von Kirche sich wandelte, erst damals, scheint
uns, gab es die ,sinnlos' vielen Messen, die Häufung der
Kultakte um der Zahl willen, die eigentlichen .Privatmessen
'" (352). Diese Gefahr mußte um so verderblicher
sich auswirken, als das aus dem Frühmittelalter tradierte
Messensystem zwar an jener geschichtlich bedingten, unkritisch
hingenommenen Erfahrung von Kirche, nicht aber
am Wesen der Eucharistiefeier selbst orientiert war. Deren
Wortgehalt scheint damals wie eine intangible Geheimformel
verehrt, aber nicht aktualisiert worden zu
sein. „Eine hinreichende Erklärung, weshalb die Aussagen
der Texte so gut wie nicht gehört wurden, wissen wir
nicht. Wir stellen nur fest, daß in der weiteren Zukunft
die Folgen fatal waren" (353). Jedenfalls mußte dieses
Konzept klösterlicher Liturgie spätestens heutzutage der
Vergangenheit anheimfallen. Dem entspricht es, wenn
seit dem II. Vaticanum die Aufgabe gestellt ist, „neue
Formen zu finden, die der Erfahrung von Kirche heute
entsprechen wie die frühmittelalterliche Form der seinerzeitigen
Kirchenerfahrung entsprach" (354). „Die Aulgabe
ist, innerhalb einer Kirche, die in einer sich stetig
wandelnden Gesellschaft ihren Platz suchen muß, ein
ehrliches Verständnis seiner selbst zu linden. Die Geschichtsschreibung
der Klosterliturgie hat genug geleistet
, wenn sie auf die Dringlichkeit dieser Aufgabe hinweist
und durch Relativierung geschichtlich gewordener
, aber nicht mehr entsprechender Formen den Frei-
heitsraum öffnet, in dem diese Aufgabe angegangen werden
kann" (355).