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Ausgabe:

1975

Spalte:

610-612

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Langer, Hans-Otto

Titel/Untertitel:

Der Kirchenkampf in der Ära der Kirchenausschüsse 1935 - 1937 1975

Rezensent:

Meier, Kurt

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Theologische Literaturzeitung 100. Jahrgang 1975 Nr. 8

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kenswert einig, den bisherigen Leiter des hamburgischen
Kirchenwesens, Senior D. Horn, der als liberal galt, zum
Rücktritt genötigt hatten, durchaus im Sinne der hamburgischen
NSDAP. Gegen Schöffeis bischöfliche Leitung
erhoben sich bald Angriffe, vornehmlich durch die damalige
DC-Landesleitung Nordwest unter Versicherungs-
kaufmann Aselsmanns Führung veranlaßt, die nach
Schöffeis Ausscheiden aus dem reichskirchlichen Geistlichen
Ministerium positionsgefährdend wurden und
Schöffeis Amtsniederlegung am 1. März 1934 bedingten:
die stark deutschchristlich geprägte Landessynode wählte
vier Tage später Tügel, bereits 1933 zum Oberkirchenrat
avanciert, zum Landesbischof.

Tügels Kirchenführung war nach dem Zerbrechen des
reichskirchlichen Eingliederungswerkes im Herbst 1934
darauf bedacht, die hamburgische DC-Gruppe allmählich
bedeutungslos werden zu lassen; im Interesse der
damals „Befriedung" genannten Konsolidierung der
von Gegensätzen zerrissenen Landeskirche legte er im
Sommer 1935 sein DC-Gauobmannsamt nieder und trat
bald darauf auch aus den Deutschen Christen aus. Der
Bekenntnisgemeinschaft, die unter Pastor Wilhelm Re-
me noch im November 1934 die Rechtmäßigkeit von Tügels
Kirchenleitung bestritten hatte, versuchte er als Bischof
schrittweise entgegenzukommen, was — durch Beschwerden
radikaler DC veranlaßt — damals selbst zur
politischen Beargwöhnung von Tügels landeskirchlichem
Kurs durch die Reichsstatthalterei führte. Eine Entmachtung
Tügels zur Zeit der Kirchenausschüsse war nicht
vorgesehen; lediglich einer Neubildung der hamburgischen
Kirchenregierung unter seinem Vorsitz stimmte
Tügel zu. Doch blieb dieses Projekt unrealisiert. Der beabsichtigte
Beitritt Hamburgs zum Rat der Evang.-Luth.
Kirche Deutschlands kam nicht zustande, da dieser sich
nicht mit Tügels Zustimmung begnügt, sondern auf ein
Votum breiterer Grundlage bestanden habe. Die durch
Austritt von Pastoren bei den Deutschen Christen sich
verbreiternde kirchenpolitische „Mitte" unter den Pastoren
, auch innere Differenzen in der Bekenntnisgemeinschaft
(beachtliche Teile der Notbundpastoren Hamburgs
hilligten den dahlemitischen Kurs nicht), trugen dazu bei,
daß Tügels kirchenpolitische Linie, die jetzt stärker auf
Ausgleich orientiert war, einen gewissen Erfolg hatte.
Tügel hat sich dann zur Kirchenführerkonferenz gehalten
, ist auch gegen mancherlei Ansinnen der Kirchen-
Politik Kerrls, den er im übrigen persönlich schätzte, hart
geblieben, so bei der Zurückweisung der „Grundsätze",
die man Frühjahr 1939 den Kirchenlührern zuletzt vergeblich
zumutete. Er setzte sich im übrigen für die Wahrung
volkskirchlichen Einflusses in der Öffentlichkeit ein.

Die Ernüchterung Tügels gegenüber dem Nationalsozialismus
mag schon Anfang 1937 eingesetzt haben.
ais eine vertrauliche Pastorenversammlung im Altar-
j'aum der Jacobikirche durch zwei Vertreter der Gestapo
überwacht und er vorübergehend aus der NSDAP ausgeschlossen
wurde. Als am 1. Juni 1941 fast nahezu die
gesamte kirchliche Presse aus „kriegswirtschaftlichen
Gründen" Ihr Erscheinen einstellen mußte und auch Tü-
JWi Hamburgische Kirchenzeitung mit betroffen wurde
(eine Eingabe bei Göring nützte nichts), sei er „innerlich
mit dem Regime fertig" gewesen (S. 336), zumal die
"Sleisnerische Begründung" durch das Weiterbestehen
Von Witzblättern, Modejournalen und antichristlichen
Kampfschriften der Nazi-Ideologie Lügen gestraft worden
sei. Er sprach in diesem Zusammenhang von einer
••ungeheuerlichen Mundtotmachung des Rufes der Kirche
". Der in dem schmalen, aber instruktiven Dokumen-
ler>anhang u. a. aufgeführte Briefwechsel mit dem Reichs-
j^'Uhalter und NS-Gauleiter Karl Kaufmann in Hamburg
wegen der Beschlagnahme des Rauhen Hauses und
"essen beabsichtigte Verwendung für eine völkisch-anti-
chl istliche orientierte Heimschule Anfang 1943 zeigt die

Enttäuschung Tügels über die Auswirkung des religionspolitischen
Kurswechsels des NS-Regimes. Im Kontrast
zu Dokumenten früherer Zeit, die das NS-System positiv
würdigen und von seiner Religionspolitik Gutes für
Kirche und Christentum erwarten, gilt der neue Kurs
als Entartungserscheinung. Auf die Konfliktsituation,
unter der „wir evangelischen Nationalsozialisten als gute
Deutsche" (S. 144) leiden, wies Tügel desillusioniert nunmehr
ausdrücklich hin.

Tügels Vorstellung, schon seit 1943 erwogen, einen
Landeskirchenrat zu bilden und damit seine Kirchenluh-
rung auf breitere Grundlage zu stellen, ließ sich nicht
verwirklichen. Er trat am 18. Juli 1945 vom Bischofsamt
zurück, um einem Eingriff seitens der britischen Besatzungsmacht
zuvorzukommen, wickelte aber bis 31. Oktober
1945 „die noch laufenden Amtsgeschäfte" ab, dabei
seinen Amtsvorgänger und -nachfolget- Schöffel informierend
. Verbittert über die kirchenpolitische Entwicklung
ist Tügel nach einjährigem Ruhestand an den Folgen
seines langjährigen Leidens am 15. Dezember 1946
gestorben.

Der Herausgeber hat durch eine größere Zahl Anmerkungen
erläuternder, gelegentlich auch korrigierender
Art und durch eine kurze Einleitung das im übrigen unveränderte
Manuskript hilfreich aufgeschlossen, so daß
die Memoiren Tügels sachlich und atmosphärisch informative
zeitgeschichtliche Bedeutung auch über die Kir-
chenkampfhistoriographie hinaus gewinnen können. Gewiß
, es ist dem Herausgeber recht zu geben, wenn er
meint, das Buch sei in seinen einzelnen Teilen sachlich
und stilistisch von unterschiedlichem Wert: in einer oft
minutiös anmutenden Erlebnisschilderung enthält es
Partien, die rein Persönliches berühren (die eigenen Familienverhältnisse
werden bis auf die Andeutung der
Konversion seiner Frau zum Katholizismus im Jahre
1919 indes so gut wie gänzlich ausgespart); Reisebe-
schreibungen und vor allem das Hamburger Lokalkolorit
kommen nicht zu kurz. Reminiszenzen an theologische
Hochschullehrer in Rostock, Erlangen, Tübingen und
Berlin, wo Tügel vor dem ersten Weltkrieg studierte, haben
ihren besonderen Reiz. Das „prüfende Nachsinnen
über seinen Lebenslauf" (= Klappentext) geschieht in
einer flüssigen, anschaulich-bildhaften, manchmal etwas
pathetischen Sprache, die auch den sonstigen literarischen
Erzeugnissen Tügels eignet, zu denen er sich mit
Ausnahme seiner Kampfschrift gegen Karl Barths „Theologische
Existenz" (1933) vorbehaltlos bekennt (S. 243).

Was die Vorgänge des hamburgischen Kirchenkampfes
insgemein betrifft, so ist zu dem die Zeit des Dritten
Reiches behandelnden Teil der Autobiographie der quellengesättigte
, Tügel gegenüber kritische und faktologisch
detaillierter schildernde Bericht von Heinrich Wilhelmi
(Die Hamburgische Kirche in der nationalsozialistischen
Zeit 1933—1945. Göttingen 1968, 326 S.) heranzuziehen,
der die Sicht der Bekenntnisseite bietet. Vgl. die Rezension
in ThLZ 94, 1969 Sp. 929 f.
Leipzig Kurl Meler

Langer, Hans-Otto: Der Kirihcnkampf in der Ära der
Kirchcnausschüssc (1935-1937). Bielefeld: Bechauf
11971]. V, 126 S. 8°.

Die Untersuchung, die neben der einschlägigen Kir-
chenkampfliteratur zum Thema und der Auswertung
verschiedener Aktenvorgänge über den Reichskirchenausschuß
(= RKA) aus dem Archiv der Kirchenkanzlei
der EKD (Hannover-Herrenhausen, jetzt Westberlin) besonders
intensiv die noch von K. D. Schmidt (gest. 1964)
besorgten Dokumente des Kirchenkampfes II. Die Zeit
des Reichskirchenausschusses 1935—1937. Zwei Teile.
Göttingen 1964 und 1965 auswertet, ist eine Graduie-