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Ausgabe:

1975

Spalte:

593-594

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Ernst, Josef

Titel/Untertitel:

Die Briefe an die Philipper, an Philemon, an die Kolosser, an die Epheser 1975

Rezensent:

Lohse, Eduard

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593

Theologische Literaturzeitung 100. Jahrgang 1975 Nr. 8

594

jüdische Gesetzesverständnis arbeitet, an dieser Veröffentlichung
vorbeigehen können, weil sie eine Fülle von
Material und eigenständige Deutungsversuche sowie beachtliche
textkritische Operationen bietet, die zur Auseinandersetzung
zwingen.
Ilerlln-DDR Günther Baumbach

Ernst, Josef: Die Briefe an die Philipper, an Philemon,
an die Kolosser, an die Epheser, übers, u. erklärt. Regensburg
: F. Pustet [1974]. 452 S. 8° = Regensburger
Neues Testament, hrsg. v. O. Kuss. Lw. DM 54,—.

In diesem vollkommen neu bearbeiteten Band des Regensburger
Neuen Testaments ist die ursprüngliche Zielsetzung
des Sammelwerks, das einer breiteren Öffentlichkeit
den Zugang zum Verständnis der neutestament-
lichen Schriften erschließen möchte, unverändert beibehalten
. Der Erörterung exegetischer Fragen und historischer
Probleme wird jedoch wesentlich mehr Raum gewidmet
. Die einschlägige wissenschaftliche Literatur wird
gründlich ausgewertet und dem Fachtheologen Rechenschaft
über die getroffenen Entscheidungen gegeben. Dem
interessierten Bibelleser wird damit ein höheres Maß an
eigener Arbeit des Mitdenkens zugemutet; er wird aber
auch durch breitere Information und die Möglichkeit,
sich ein begründetes Urteil bilden zu können, belohnt.

Im Unterschied zu den früheren Auflagen der Erklärung
der Gefangenschaftsbriefe werden die theologischen
Positionen der einzelnen Schriften schärfer herausgearbeitet
und wird ein differenziertes Urteil über
ihre Entstehungsverhältnisse abgegeben. Die herkömmliche
Bezeichnung als Gefangenschaftsbriefe wird mit
vollem Recht lediglich als „ein rein formalistisches
Sammlungsprinzip" bezeichnet (S. 8), das über den theologischen
Ort der verschiedenen Schriften noch nichts
aussagen kann. Der eingehenden Auslegung der Texte ist
jeweils eine Einleitung vorangeschickt, in der die Gedankenführung
und die Entstehungsverhältnisse des Briefes
erörtert werden. Dabei wird zuerst der theologische Charakter
der Schrift beschrieben, um von ihm her die Einordnung
in den Kreis der Proto- bzw. Deuteropaulinen
vorzunehmen. Die Reihenfolge, in der die Briefe des Corpus
Paulinum ausgelegt werden, läßt die historische Ordnung
erkennen, in die sie gebracht werden sollen.

Der Vf. beginnt mit dem Philipperbrief, dessen Entstehung
am ehesten in Ephesus vorgestellt werden kann,
wenn man nicht die Frage nach dem Abfassungsort überhaupt
offenhalten will. Die Brüche, die sich in der Gedankenfolge
des Briefes finden, werden aufgewiesen. Die Argumente
, die für eine Quellenscheidung sprechen, werden
als gewichtig anerkannt, aber doch nicht für absolut
zwingend gehalten (S. 29). Näherliegend sei es, „die Stilbrüche
dem selbständigen Denker Paulus zuzuschreiben"
(S. 31). Angesichts der schwerwiegenden Gründe, die für
die Annahme einer Briefkomposition sprechen, will
diese Erklärung nicht recht befriedigen.

Am wenigsten Schwierigkeiten bereitet der kleine
Philemonbrief, für dessen historische Einordnung mit
Recht ausschließlich die eigenen Aussagen des Schreibens
herangezogen werden. Der Ephesushypothese wird
für die Bestimmung des Abfassungsortes hohe Wahrscheinlichkeit
zuerkannt, als Zeitpunkt der Entstehung
Werden die Jahre 54/55 in Betracht gezogen (S. 127).

Die theologische und schriftstellerische Eigenart des
Kolosserbriel'es wird deutlich herausgearbeitet und dabei
auf die Unterschiede gegenüber traditionell-paulini-
schen Elementen aufmerksam gemacht. Die paulinische
Christologie sei in der des Kol jedoch nicht verdrängt,
sondern überlagert worden (S. 143). Die Entwicklung zur
kehre, zur Tradition und zum fixierten Glaubensgut
Werde vor dem Hintergrund der kolossischen Umtriebe
Verständlich, zumal das Nachlassen der Parusieerwar-

tung eine gewisse Rolle spiele (S. 144). Das Ergebnis lautet
: „Der Kolosserbrief benutzt zwar die paulinische Terminologie
, aber das theologische Gesamtverständnis hat
sich doch so sehr gewandelt, daß die gleichen Begriffe
einen neuen Sinn erhalten." (ebda.) Welche Folgerungen
sind aus dem „Zusammentreffen von paulinischen und
nichtpaulinischen Elementen" (S. 150) zu ziehen? Der
Annahme, der Kol könne eine Fälschung sein, wird widersprochen
und vermutet, noch zu Lebzeiten des Apostels
habe sich in seiner unmittelbaren Umgebung eine
Schultheologie entfaltet, aus der dann der Kol hervorgegangen
sei (S. 152). Können aber wirklich mit dieser Hypothese
die Unterschiede zwischen der Theologie des Kol
und der Protopaulinen hinreichend verständlich gemacht
werden? Als weit wahrscheinlicher wird es gelten müssen
, daß der Kol nicht mehr zu Lebzeiten, sondern bald
nach dem Tod des Apostels abgefaßt worden ist.

Den Epheserbrief schreibt der Vf. eindeutig der nach-
paulinischen Zeit zu. „An die Stelle der drängenden
Naherwartung ist die ökumenische Ausrichtung der Mission
getreten" (S. 247). Der Eph entwickelt ein „reiferes"
Kirchenverständnis und spiegelt „den Prozeß einer breiten
geistesgeschichtlichen Umorientierung wider, der seinen
äußeren Ausdruck in den neuen räumlichen Heilskategorien
gefunden hat" (S. 250). Die Christologie ist
ganz von der Ekklesiologie her interpretiert. Die engen
Beziehungen, die zwischen Kol und Eph bestehen, werden
jedoch nicht mit den meisten Forschern auf literarische
Abhängigkeit zurückgeführt, sondern beide Briefe
sollen auf die gleichen Traditionen zurückgegriffen, sie
jedoch unterschiedlich in die jeweilige Gesamtkonzeption
eingebaut haben (S. 257). Die weitgehenden Parallelen
werden jedoch besser durch die Annahme erklärt, daß
der Kol dem Verfasser des Eph als Vorlage gedient hat.
Als Autor des Eph wird ein judenchristlicher Prophet angenommen
, der in einer allgemeinen Krise, „in der es um
das grundsätzliche Theologie- und Kirchenverständnis
ging, eine weisheitliche Rede" verfaßte, „die sowohl weltentrückt
meditiert als auch betroffen argumentiert"
(S. 258). Der Eph ist somit als eine Pseudonyme Schrift zu
beurteilen, „die aus der Feder eines paulinischen Theologen
des ausgehenden ersten Jahrhunderts stammt"
(S. 261).

Die sorgfältige Darlegung der theologischen Gedankenführung
der Briefe, die behutsame Abhandlung der
Probleme ihrer Abfassung sowie die Schritt für Schritt
vorwärtsgehende Einzelexegese legen dem Leser Forschungsergebnisse
übersichtlich dar und entwickeln selbständige
Lösungsvorschläge, um — wie der Vf. sagt —
„positive Antworten vom Standpunkt des Glaubens aus
geben" (S. 5). Dieses Ziel wird erreicht und ein anerkennenswerter
Beitrag zur Interpretation paulinischer und
nachpaulinischer Theologie geleistet.

Hannover Eduard Lohse

Solages, Mgr. de: La Composition des Üvangiles de Luc
et de Matthieu et leurs Sources. Leiden: Brill 1973.
320 S. gr. 8°. Lw. hfl. 74,-.

Frey, Louis: Analyse ordinate des ßvangiles Synoptiques.

Paris: Gauthier-Villars; Den Haag: Mouton 1973. V,
383 S., 1 Falttabelle. 8° — Ecole Pratique des Hautes
Etudes - Sorbonne. Sixieme Section: Sciences Econo-
miques et Sociales. Mathematiques et Sciences de
1 homme, XI. ffr. 135.-.

Die beiden hier anzuzeigenden Werke haben vieles gemeinsam
: sie kommen aus Frankreich, ihre Gesprächssituation
ist die der dortigen katholischen Forschung, sie
gelten der literarischen Analyse der Synoptiker, der sie
durch Anwendung mathematischer Methoden neue Anstöße
geben wollen. Dabei gehören sie nicht unmittelbar
in das Gravitationsfeld des Strukturalismus, sind nicht