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Ausgabe:

1975

Spalte:

464-467

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Baumotte, Manfred

Titel/Untertitel:

Theologie als politische Aufklaerung 1975

Rezensent:

Mau, Rudolf

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löst und welche Motive dabei wirksam sind. Das
noetische Problem beantwortet Thielicke mit dem
Hinweis auf die Christusoffenbarung, setzt aber ein
„generelles Geschöpflichkeitsbewußtsein" voraus und
benutzt Begriffe einer personalistisch-existentialisti-
schen Anthropologie als formalen Rahmen. Dabei ist
Thielicke jedoch nicht konsequent, denn er redet auch
von einem „ontischen Substrat" der Gottebenbildlichkeit
, auf dem die durch die Sünde nicht zerstörbare
Gottesrelation beruht. Ansprechbarkeit, Verantwortlichkeit
, Entscheidungsfähigkeit und Freiheit des Menschen
— zusammengefaßt im Gewissen — machen die
formale Personalität des Menschen aus, die mit der
Schöpfung verliehen wird. Sie ist durch die Sünde nicht
zerstört, sondern bloß qualitativ verändert, gegen ihre
inhaltliche Bestimmung eingesetzt. Das ergibt bei
Thielicke ein Nebeneinander von personal istischem und
ontologischem Denken, das zu Widersprüchlichkeiten
führt. Die behauptete Güte der Schöpfung wird EU
einer „fiktiven Größe", wenn niemals ein Mensch im
positiven Modus der Gottebenbildlichkeit gelebt hat,
der sich in einer „überempirischen Dimension" vollziehende
Sündenfall erseheint als metaphysische Hilfskonstruktion
, und das Verhältnis von Anthropologie
und Soteriologie hinkt, wenn Adams Fall nicht wie
Christi Tod und Auferstehung ein heilsgeschichtlich
einmaliges Ereignis extra me „in echter kreatürlicher
Zeithaftigkeit und Leibhaftigkeit" (so Peter Brunner)
gewesen ist. Die Unzulänglichkeit des personalistischen
Denkschemas zeigt sich schließlich auch darin, daß die
Konsequenzen aus Schöpfung und Fall im Bereich der
außermenschlichen Natur nicht angemessen in den
Blick kommen.

Die Kritik Nordlanders richtet sich nicht allein an
die Adresse Thielickes. Das gleiche „existentialistisch-
personalistische Deutungsmuster" findet er — mit
leichten Modifikationen — bei P. Althaus, W. Bachmann
, K. Barth, E. Brunner, R. Prenter und F. K.
Schumann. Sie alle lassen sich mit wechselnder Terminologie
auf die Unterscheidung von formaler und
materialer Gottebenbildlichkeit ein, verbinden damit
persona] istisches und ontologisches Denken und kommen
der patristisch-scholastischen Distinktion zwischen ima-
go und similitudo nahe, ohne sich dessen bewußt zu
sein. Ein origineller Beitrag Thielickes liegt nur in der
(sachlich freilich nicht weiterführenden) Unterscheidung
zwischen imago im positiven und im negativen
Modus und in der teleologisch-axiologischen Akzentuierung
der Bestimmung zur Gottebenbildlichkeit vor.

Das Buch bietet eine solide Durchsicht durch
Thielickes Äußerungen zum Thema, zumeist an den
entsprechenden Abschnitten der „Theologischen Ethik"
entlanggehend, und informiert zusätzlich über ähnliche
Aussagen evangelischer Theologen unseres Jahrhunderts
. Da aber weder die exegetische Diskussion noch
die hermeneutische Problematik der biblischen Aussagen
zum Thema herangezogen werden (verwiesen
wird lediglich auf die Forschungsberichte in dem von
L. Scheffczyk 1969 herausgegebenen Sammelband „Der
Mensch als Bild Gottes"), trägt das Buch wenig zur
Klärung der Sachprobleme bei. Eine Alternative zu
dem analysierten Ansatz wird nicht sichtbar, es sei
denn, daß Nordlander wieder, wie auf S. 176 angedeutet,
zu einem historisierenden Verständnis von Urständ
und Sündenfall zurückkehren will, wonach der Status
integritatis eine menschheitsgeschichtliche Periode und
der Fall ein objektiv-heilsgeschichtliches Ereignis war.
Unklar bleibt auch, wie weit Nordlander mit der
römisch-katholischen Konzeption und ihrer Betonung
ontologischer Strukturen sympathisiert; die ausdrückliche
Konfrontation mit ihr wäre wahrscheinlich sach-

4til

lieh ergiebiger gewesen als der Vergleich mit den im
wesentlichen kaum differierenden Äußerungen evangelischer
Theologen. Die I mago-Dei-Lelue erweist sieh
hior wieder als ein gewichtiges kontroverstheologisches
Thema.

1-ioipzig Joachim Wieboring

ETHIK

IniMtte, Manfred: Theologie als politische Aufklärung.

Studien zur neuzeitlichen Kategorie des Christentums.
Gütersloh, Güter.iloher Vuilagshaus Gerd Mohn [197 3 J.
208 S. 8° = Studien zur ovangolisohen Ethik, hrsg. v.
T. Rendtorff, H. E. Tödt, H. ü. Wendland, 12. Kart.
DM 48,—.

Der Titel des als Münchener Dissertation bei Trutz
Kendtorff entstandenen Buches klingt programmatisch
und ist auch so gemeint. Das Interesse Baumottes gilt
der Theologie als ganzer, ihrem Ansatz und Arbeitsfeld:
Sie soll „weitero systematische Möglichkeiten" gewinnen
(34, 45, 52 u. ö.), indem sie den Bereich von
„Kirche" und „Dogma" überschreitet und das „neuzeitliehe
Christentum und seine Welt" — d. h. aber
im Sinne des Vf.s: die gegenwärtige gesellschaftliche
Wirklichkeit als ganze —- thematisiert. Diesem Interesse
dient die Beschäftigung mit der deutschen Auf-
klärungstheologie, insbes. dem Rationalismus der ersten
Hälfte des 19. Jahrhunderts, da hier das neuzeitliche
Christentum erstmalig als Thema der Theologie begriffen
und reflektiert wurde. Der Vf. will die theologische
Aufklärung einer Ächtung entreißen, der sie
immer dort ausgesetzt war, wo ihre Problemstellungen
„ausschließlich unter kirchlich-dogmatischem Aspekt
zur Diskussion standen" (28).

Dieser Ansatz bestimmt Rahmen und Gegenstände
der auf die Zeit von etwa 1800 bis 1848 bezogenen
theologiegeschichtlichen Studien. B. behandelt u. a.
das Verhältnis von Kirche und ethischem Rationalismus
am Anfang des 19. Jh.s (34 ff.), den Begriff der
Säkularisation (77 ff.), „Christentum" als politische
Kategorie des Rationalismus („Deutungskategorie der
modernen Welt") (90 ff.) und die Auseinandersetzungen
um das Verständnis der Französischen Revolution
(134 ff.). Besonders ausführlich kommen in Darstellung,
Würdigung und vielfach unmittelbarer Aktualisierung
der Leipziger H. G. Tzschirner sowie K. G. Bretschnei-
der zu Worte (mit je fast 30 Schriften). Darüber hinaus
bezieht B. sich auf zahlreiche weitere Quellenschriften
und Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. Das
beachtliche Literaturverzeichnis (187—208) nennt ca.
500 Titel.

Die von Baumotte geleistete, der Spätaufklärung
zugewandte Forschungsarbeit ist ohne Frage ein
wichtiger Beitrag zur Erhellung dieses lange vernachlässigten
Bereichs der Theologiegeschichte. Unbekanntes
oder bisher wenig Beachtetes wird zutage gefördert;
die Relationen zwischen Kirche, Theologie, Gesellschaft
und Politik im genannten Zeitraum und Quellenbereich
treten deutlich hervor. Besonderes Interesse verdienen
u. a. die Studien zum Verständnis von „Säkularisation"
und zum Streit um die Ursachen der (Französischen)
Revolution. Die Aufklärungstheologie (Planck, Tzschirner
) bemüht sich, die Säkularisation von Kirchengut
(1803) entgegen anderen zeitgenössischen Deutungen
gerade als in der Konsequenz der Reformation liegend
verständlich zu machen. Tzschirners Stellungnahme
zur revolutionären französischen Ehegesetzgebung
(Ehe als „bürgerlicher Contract") wiederum zeigt, daß
„der aufgeklärte Protestantismus auf dem Boden der

Theologische Literaturzeitung 100. Jahrgang 1975 Nr. 6