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Ausgabe:

1975

Spalte:

230-232

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Vandré, Rudolf

Titel/Untertitel:

Schule Lehrer und Unterricht im 19. Jahrhundert 1975

Rezensent:

Lachmann, Rainer

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die Reflexion des Zusammenhangs von Religion und Gesellschaft
'" (73). Die zu den einzelnen Stufen gegebenen
Hinweise auf Unterrichtsformen und -medien bleiben im
allgemeinen didaktischen Rahmen und bieten nichts Neues.

Die Ausführungen über die Sonderschule, die II. G. Ney
bietet (75—81), sind sehr allgemein gehalten. Sie setzen sich
mit Recht für einen bikonfessionellen bzw. nicht nach
Konfessionen getrennten RU ein. Für diesen Abschnitt
wünschte man sich konkretere Hinweise.

Es folgen jetzt im 3. Teil elf Modelle, auf die ich nachher
eingehen werde. Der 4. Teil bietet didaktische Exkurse
(320—364). Der Rezensent fragt sich, warum diese Ausführungen
über Interpretation, Bibel, Traditionen, Weltreligionen
, Unterrichtsverfahren, -beobachtungen und -pla-
nung als Exkurse und erst nach den Modellen erscheinen.
Hier werden enorm wichtige Probleme angesprochen, die im
Gesamtzusammenhang dieses Handbuches einen m. E. zu
untergeordneten Stellenwert erhalten. Gerade dieser 4. Teil
macht den Wandel in der Diskussion seit dem Erscheinen
des Handbuchs des Religionsunterrichts von 1964 und dem
Neuen Handbuch von 1972 sehr deutlieh. Daß biblische
Texte keinen Eigenwert (332) besitzen, ist bereits von der
Urgemeinde, spater u. a. von Luther (etwa in Auseinandersetzung
mit der Exegese des Nikolaus de Lyra) betont
worden. Zweifellos sind in der Epoche des in allen Lehr-
pläneh vorherrschenden didaktischen Materialismus biblische
Texte in den RU hilleingenommen worden, ohne daß nach
ihrer Funktion im Leben der Schüler jetzt und in Zukunft
gefragt worden wäre. (Zu Ehren der Praktiker muß freilich
gesagt werden, daß man sich nicht überall mit Informationen
über biblische Texte und mit der historisch-kritischen
Einsicht begnügt hatte — das ist eine Erfindung der Schwarzweiß
-Maler unter den Religionspädagogen).

Daß ,.biblische Texte nur kritisch im Unterricht Verwendung
finden können" (333), meint sicherlich: Es darf
kein anreflektiertes Ubernehmen von biblischen Überlieferungen
geben. Schließt reflektiertes Übernehmen biblischer
Texte einen unsere Existenz in der heutigen Gesellschaft
erhellenden, „positiven lebensführenden und
handlungsorientierenden Sinn" (Nipkow) aus? Doch wohl
nicht, sonst müßte ein solches Verständnis von Kritik
zwangsläufig zu einer einengenden und verfälschenden
Interpretation biblischer Aussagen führen.

Die elf Modelle des :;. Teils über Christentum, Konflikt,
Gehorsam; Angst. Sexualität, Kommunikation, Arbeit,
Freizeit, Frieden, Veränderung und Kirche (85—318) bilden
das Zentrum dieses Handbuchs. Im Blick auf alle Modelle
ist zu sagen : Hier finden sieb nic ht nur vortrefflich* Einzelbeobachtungen
; besonders die Ausführungen zur „Herleitung
" (Zusammenhang mit den allgemeinen Zielvor-
Itellungen) und zur „Begründung und Relevanz' (Aufschlüsselung
des Modellthemas unter gesellschaftlichem,
fachwissenschaftlichem und didaktischem Aspekt) bieten
fast durchweg ausgezeichnete Anstöße zur Bewältigung des
Themas, soweit es um systematische Einsichten gehl. Die
„Überlegungen zur Thematisierung" mit den „orientierenden
Stichworten" werden ohne unterrichtliche Aufbereitung angestellt
. Iiier zeigt sich eine empfindliche Schwäche dieses
Handbuchs, die nicht durch die Literaturangaben überwunden
wird. Auch die an die Überlegungen zur Thematisierung
anschließend aufgeführten „Ansätze und Materialien"
bieten entweder nur Literaturhinweise oder einseitig ausgewählte
Materialien, ohne Alternativen bereitzustellen. Ich
unterschätze die Literaturangaben keineswegs, meine aber,
daß dem Lehrer wenig geholfen ist, wenn verschiedentlich
nur Themen genannt oder nur ein Text abgedruckt werden.

Richtig ist. dal.! kein,- Stundenentwürfe angeboten werden,

aber das hätte nicht ZU mangelnder Konkretion oder einseitig
ausgewählten Texten (die zweifellos provozieren sollen,
siehe 87) verfuhren dürfen. Eine intensive Aufbereitung der

mitunter sehr global gehaltenen Stichworte wäre eine
wirkliche Hilfe für den Unterrichtenden, der vor allem im

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Bhck auf die Grund- und Orientierungsstufe überfordert ist
Für den Unterricht in der Überstufe werden eher Hilfen
geboten.

Ein weiterer Mangel des Buches zeigt sich in den mageren
Ausführungen zu den sogenannten „christlichen Implikationen
", die übrigens längst nicht in allen Themen diskutiert
werden. Abgesehen von den Modellen über das
Christentum und die Kirche (89fL, 302ff.)werden die religiöse
und christlichen Problemhorizonte entweder überhaupt
nicht oder nur höchst unzureichend angesprochen (z. B. zu
Sexualität. Arbeit, Freizeit, Kommunikation u. a.). Gerade
an dieser Stelle hat Religionsunterricht eine Aufgabe, die
ihm der Sozialkundeunterrieht oder andere Bereiche nicht
abnehmen können.

Das Drängen auf einen schülerorientierten RU ist 100%ig
zu bejahen, auch die Intention, den engen Zusammenhang
von Bcligion und Gesellschaft, von Kirche, Theologie und
Gesellschaft in kritischer Reflexion aufzuzeigen. Nur bleibe
man nicht im Dickicht der Probleme hängen, sondern stoße
zuAntworten durch, die die gegenwärtigenWeltanschauungen,
die nichtchristliche Religionen, die Bibel und die Kirchen in
der konkreten Situation der Schüler offerieren. Einsolcher
RU könnte auch zur Selbstfindung der Schüler beitragen.

Gießen Friedrich Hahn

Vandre, Rudolf: Schule, Lehrer und Unterricht im 19. Jahrhundert
. Zur Geschichte des Religionsunterrichts. Göttingen
: Vandenhoeck & Ruprecht [1973]. 246 S., 5 Abb.
gr. 8° = Studien zur Kirchengeschichte Niedersachsens,
in Verb. m. R. Drögereit u. K. Schmidt-Clausen hrsg. v.
H.-W. Krumwiede, 21. Kart. DM 28,-.
Vorgelegter Studie liegt eine Dissertation zugrunde mit
dem Titel „Die Bedingungen für den Religionsunterricht in
den Schulen Ost frieslands um die Mitte des 19. Jahrhunderts
unter besonderer Berücksichtigung des Verhältnisses von
Kirche und Schule". Wenn auch von einer besonderen
Berücksichtigung des Verhältnisses von Kirche und Schule
in der Untersuchung kaum die Rede sein kann, so gibt das
Dissertationsthema den Inhalt der Arbeit doch weit präziser
wieder als der Buchtite l: vor allem macht es die perspektivischen
Beschränkungen deutlich, denen vorliegende Studie
inhaltlich unterliegt: Räumlich beschränkt sie sich auf das
Gebiet von Ost friesland, zeitlich liegt ihr Schwerpunkt auf
der Mitte des 19! Jahrhunderts, und sachlich begnügt sie sich
mit der Darstellung der „äußeren Bedingtheiten" des
evangelischen Beligionsunterrichts an den ostfriesischen
Volksschulen (S. 11). Ausgesprochenes Ziel ist dabei, ..an
einer bestimmten Stelle so konkret wie möglich ein einigermaßen
profiliertes Bild der Schulwirklichkeit zu zeichnen"
(S. 10). Die damit angestrebte „größtmögliche Konkretion
und Anschaulic hkeit" di r Studie erreicht der Autor dadurch,
dal! er in sehr reichem Maße — die Quellenzitale machen
zusammengenommen knapp ein Drittel des Gesamtum-
fanges aus — die „Quellen selber reden" läßt. Daß sie das
auch wirklich tun und „der Geruch der Zeil" aus der ihnen
„eigenen Form" (Fr. Paulsen) auch tatsächlich aufsteigt; ist
ohne Zweifel der große Vorzug der Untersuchung und das
Verdienst ans Fundierten) Quellenstudium.

Nicht ganz problemlos e rscheinen die genannten inhaltlichen
Beschränkungen der Studie. Vor allem ist für eine
theologische Dissertation mit dem Buchuntertitel „Zur
Geschichte des Religionsunterrichts" die erklärte Nichtberücksichtigung
des eigentlichen Religionsunterrichts nicht
recht e insichtig und sachlich kaum zu rechtfertigen. Dagegen
erweisen sich Bedenken gegen die räumliche Beschränkung
auf Ostfriesland, die sich aus der schulgeschichtlich
scheinbar unrepräsentativen Entlegenheit dieses
Kulturraums ergeben könnten, bereits im Blick auf die
wechselnde ..politische Zugehörigkeil ()stfrieslands 1744—
1870" als gegenstandslos. Leider ist den politischen Ver-

Theologische Literaturzeitung 100. Jahrgang 1975 Nr. 3