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Ausgabe:

1975

Spalte:

221-224

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Bissinger, Anton

Titel/Untertitel:

Die Struktur der Gotteserkenntnis 1975

Rezensent:

Schultze, Harald

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Theologische Literaturzeitung 100. Jahrgang 1075 Nr. 3

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wissen und haben, und suchen nach dem, was wir noch nicht
wissen und haben" (W 4; 342).

Ki»l Werner Schultz

Bissinger, Anton: Die Struktur der Gotteserkenntnis. Studien

zur Philosophie Christian Wolffs. Bonn: Bouvier 1970.

XVIII, 342 S. gr. 8° = Abhandlungen zur Philosophie,

Psychologie und Pädagogik, 63. DM 48, — .

Eine Untersuchung zur Philosophie Christian Wolffs hat
schon durch ihr Thema Anspruch auf lebhaftes Interesse. Die
letzten Monographien über Wolff sind vor dem II. Weltkrieg
erschienen; die umfangreichste unter ihnen, das zweibändige
Werk von Mariano Campo, ist im deutschen Sprachraum
kaum bekannt geworden. Vielleicht wächst das Interesse an
jenem einst so berühmten Philosophen wieder, nachdem verdienstvollerweise
der Verlag Olms in Hildesheim damit begonnen
hat. die Werke Wolffs in einer großen Ausgabe neu
zu drucken. Es mag sein, daß die vorliegende Arbeit durch
jene Gesamtausgabe mit angeregt worden ist. Jedenfalls
kommt ihr z. B. die vorzügliche Editionsarbeit, die Jean
Ecole der Ontologia (1730) und der Cosmologia generalis
(1731) gewidmet hat, zugute. Sicher ist es kein Zufall, daß
sich Bissinger als katholischer Theologe (wie auch Jean Ecole)
der philosophischen Theologie Wolffs zuwendet. Weil sich
Wolff den Prinzipien der modernen, mathematisch bestimmten
Wissenschaft ebenso verpflichtet weiß wie der Tradition
der aristotelischen Metaphysik, nimmt er eine Schlüsselstellung
in der neueren Philosophiegeschichte ein.

Die gründliche Arbeit Bissingers füllt also eine Lücke.
Dafür kann man um so dankbarer sein, da sich der Vf. ein
zentrales Thema aus der umfangreichen philosophischen
Arbeit Christian Wolffs gewählt hat: denn die Metaphysik
Wolffs, die in der Gotteslehre gipfelt, ist es gewesen, die die
philosophische Arbeit im Deutschland des 18. Jahrhunderts
entscheidend bestimmt bat. Wer die ..Struktur der Gotteserkenntnis
"hei Wolff untersucht, kann den Anspruch erheben
, Wesentliches zu seiner Bedeutung überhaupt zu
sagen. Das ist Hin so nichtiger, als gerade letztere durchaus
umstritten ist. Von Kant als markantestem Vertreter der
dogmatischen Metaphysik kritisiert, wird Wolff z. Ii. von
Max Wundl als di r Erneuerer der Tradition der Schulphilosophie
des 17. Jahrhunderts charakterisiert und damit
der eigentlichen Aiifklärungsphilosophie entgegengesetzt —
während Emanuel I (irscb ihn vor allem in seiner progressiven
Bedeutung für die Herausbildung des modernen Denkens
würdigt.

Bissinger bietet eine umfassende Analyse wesentlicher
Teile der Logik, der Ontologie, der empirischen und der
rationalen Psychologie, der Kosmologie und der Theologia
naturalis Christian Wolffs. Die Krage nach der Struktur der
Gotteserkenntnis ist an sich viel enger begrenzt; als eine
Spezifisch moderne frage kann sie aber nicht auf den Rahmen
der Theologia naturalis beschränkt werden: ilie lo-
gischen, ontologischen, psychologischen und kosmologischen
Denkvoraussetzungen müssen gleichermaßen gründlich erörtert
werden. Dies leistet der Vf. in einer exakten, umfassenden
Darstellung. Dabei bieten ilmi die umfangreichen
lateinischen Lehrbücher Wolffs aus seiner Marburger Zeit die

eigentliche Basis der Untersuchung; die früher erschienenen

deutsehen Schriften werden aber ständig mit herangezogen.
So gewinnt der Leser zugleich einen Uberblick über die
Grundlagen der Philosophie Wolffs. Außerhalb des Gesichtskreises
bleiben nur die Physik und die Ethik, die Gesellschaftslehre
und die Ästhetik sowie die Naturrechtslehre. In
diesem Sinne ist Bissingers Buch die umfassendste Darstellung
, die wir gegenwärtig besitzen.

Dabei liegt der eigentliche Akzent der Arbeit auf der
Ilerausarbeitung der Zusammenhänge zwischen dem Denken
Wolffs und dem der Metaphysik des 17. Jh.s. Daß Wolff Anregungen
von Leibniz — explizit und implizit — aufgenommen
bat, ist bekannt und wird jeweils erläutert. Daß er sich

gerade in der Frage der Gotteserkenntnis wesentlich an der
cartesianischen Tradition orientiert — auch da, wo er andere
Wege geht —, ist ebenso bekannt. Die besondere Leistung
Bissingers liegt darin, wie er — die Arbeit Ecoles für die
Ontologie und Kosmologie nun für die Theologia naturalis
weiterführend — die Auseinandersetzung Wolffs mit den
Fragestellungen der spanischen Spätscholastik und mit den
lutherischen und reformierten Metaphysikern des 17. Jahrhunderts
aufzeigt. Max Wundt hatte in seiner Arbeit über
„Die deutsche Schulphilosophie im Zeitalter der Aufklärung"
zunächst allgemein einen solchen Zusammenhang herausgestellt
; Bissinger weist nun im Detail, kritisch und genau
differenzierend, nach, inwiefern Wolff, im Aufbau seiner
Ontologie wie in seiner Theologie, den Fragestellungen der
Schulmetaphysik des 17. Jh.s verpflichtet ist — und inwiefern
er davon abweicht. Interessant ist, wieso z. B. bei einem
scheinbar traditionellen Stück der natürlichen Theologie, dem
kosmologischen Gottesbeweis, die Eigenständigkeit Wolffs
klarwird: In der Bevorzugung des aposteriorischen Beweisganges
gebt Wolff mit der Schulmetaphysik konform; indem
er ganz streng von der Kontingenz der Dinge ausgeht, wird
die Abhängigkeit von Leibniz deutlich. Wolffs Beweis zeichnet
sich dann aber vor allem dadurch aus, daß er das ens a
se, das er erschließt, nicht selbstverständlich mit Gott identifiziert
, sondern zunächst prüft, warum die Elemente der
Welt und die Atome der Materie, warum auch die Seelen
der Menschen nicht in diesem Sinne ens a se sein können.
Erst so kann für Wcdff als erwiesen gellen, daß nur Gott
ens a se sein kann.

Besondere Sorgfalt widmet Bissinger der Rückfrage nach
den erkenntnistheoretischen Voraussetzungen Wolffs. Da
Wolff explizit eine Erkenntnistheorie nic ht bietet, müssen
die dafür wichtigen Aussagen ans der Logik und der Psychologie
vor allem erhoben werden. Bissinger kann dabei zeigen,
welchem zentrale» Funktion der Satz vom zureichenden Grund
hat: in seiner doppelten, logischen wie ontologischen Funktion
, ist er regierendes Prinzip bis in die Gotteslebre hinein.
Daneben wird deutlich, wie weitgehend sich Wolff auf die
empirische Psychologie der Frühaufklärung eingelassen hat;
die Abhängigkeit des Bewußtseinsinhaltes von den Sinneseindrücken
wird bis in den zweiten Entwurf der Theologia
naturalis hinein, der an sich den apriorischen Gottesbeweis
entwickeln soll, festgehalten.

Die streng systematische Fragestellung ermöglicht es
Bissinger auch, /u der Kontroverse um die Bedeutung des
physikotheologischen Gottesbeweises bei Wolff Stellung zu
nehmen: er kann Beigen, daß jener Beweisgang von Wolff
nur für die populäre Erörterung zugelassen wird, wählend
er in der wissenschaftlichen Philosophie offenbar keinen
Wert behält.

Solche Einsichten sind wichtig, weil sie eine kritische
Diskussion des Wolffschen Systems ermöglichen. Bissinger
weist mehrfach darauf bin, daß dieses System entworfen
worden ist, um einen übergreifenden Standpunkt in der
Auseinandersetzung zwischen Idealismus und Materialismus
und damit zugleich eine Aussöhnung zwischen der empirischen
Methode der modernen Wissensehaft und dem

deduktiven Verfahren der klassischen Metaphysik zu ermöglichen
. Freilich zwingt solche Synthese zu einer Neutralität
, die an manchen Stellen unausgeglichene Spannungen
stehen läßt.

Es ist imponierend, welch umfangreiche Forschungsarbeit
hier vor dem Leser ausgebreitet wird. Es wird nicht nur ein
zuverlässiger, präziser Überblick geboten, der selbst das
Material für den Vergleich mit der philosophischen Tradition
zur Verfügung stellt. Bissinger gibt zugleich eine Einführung
in die Gotteslehre der Schulphilosophie im 17. Jahrhundert,
wie sie so über die früheren Arbeiten, selbst die von Max
Wundt. hinausführt. Und doch bleibt, ein unbefriedigender
Eindruck — neben jenem ersten — zurück. Er resultiert nicht
nur aus der Sc hwerfälligkeil der Darstellung. Es ergeben sicdi
nämlich bestimmte methodische Einwände, die ausgespro*