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Ausgabe:

1975

Spalte:

215-217

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Sommer, Wolfgang

Titel/Untertitel:

Schleiermacher und Novalis 1975

Rezensent:

Jacob, Friedrich

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215

Theologische Literaturzeitung 100. Jahrgang 1975 Nr. Ii

Spielerische leinet Unternehmern, das doch zugleich mit
einem letzten Ernst verbunden ist; von hierher, aus der
emblematischen Struktur, erklärt sich weiter die Konzentration
aller Aussagen und aller Bilder auf den wiedergeborenen
einzelnen, dessen Denken, Leben und Handeln lieh
nun anschaulich in der Christianopolis spiegeln; von hierher
wird die Tatsache begreifbar, daß diese Stadt wirklich etwas
wie eine Idee ist, ein „Nirgendwo", denn es bandelt, sieb
ja um die Abbildung dessen, was der Christ glaubt und

hofft und was er als ein solcher Glaubender iit; aber zugleich
ist die Beschreibung der Christianopolis tatsächlich
Appell, Kritik am Bestehenden und Aufforderung zur Verwirklichung
der eigenen christlichen Existenz und in der
Folge davon der wahrhaft christlichen Gesellschaft, die durch
das Zusammenwirken Gleichgesinnter entsteht: so, wie jedes
Emblem Hinweis ist auf eine hinter der bildhaften Oberfläche
liegenden Wirklichkeit, auf transzendente und metaphysische
Wahrheiten und eben darin, in diesem Verweis, der

Appell und die Aufforderung enthalten sind, sieli entsprechend
dieser Einsicht zu verhalten. Arnds Leitmotiv im
„Wahren Christentum", nämlich das I [eraustreten des echten
Christen aus der „Welt" und die immer völligere Hineingabe

seiner Seide in Gott: das w ird von Andreae in einem spielerischen
exemplum mit Hilfe der l'.inbleinatik veranschaulicht
. Erst wenn man die Christianopolis in diesen
geistigen, kultur- und theologiegeschichtlichen Kontext ein
ordnet — der hier selbstverständlich nur eben angedeutet
werden konnte—, kann die Eigenart und die Bedeutung
dieses Buches auch für den heutigen Leser sprechend werden.

Erfreulicherweise ist dem Band eine deutsche Übersetzung
beigegeben worden. Es handelt sich dabei um eine Übertragung
von David Samuel Georgi aus dem Jahre 1741.
Wenn der Klappentext, der vorliegenden Edition nun aber
angibt, diese Übersetzung sei „modernisiert und verbessert"
worden, so bleibt doch Unbefriedigendes genug. Zumindest
hätte man eine kurze Charakteristik dieser Übersetzung erwartet
, die außerordentlich frei ist und im übrigen deutlich
den Geist der Aulklärung verrät: da wird, um nur einiges
zu nennen, aus coelum „Schicksal" (S. 43), aus Serena nnnie
ein „aufgeklärtes Gemüt" (S. 81). Aber auch eindeutig veraltete
Begriffe und Ausdrucksweisen werden schlicht übernommen
: welcher Leser weilt schon sogleich, was „hudeln"
(S. 23) ist, was Leute sind, „die nur das Maul bei sieb haben"
(S. 51), was „niedlieb gekocht" (S. 01) meint, oder „gewickelt
und gewiegt" (S. 145)? Manche Sätze der lateinischen
Vorlage fehlen in der deutschen Übersetzung überhaupt
(z. B. S. 81 oben); zahlreiche Passagen sind so frei
übertragen, daß sie nur sehr bedingt die Vorlage wiedergeben
(z. B. S. 33 oder S. 85, Mitte), und immer wieder begegnen
Sätze, die praktisch unverständlich bleiben, wie etwa: „Wir
befleißigen uns, nicht, was uns nichts angeht, zu kränken"
(S. 89). Alle diese Beispiele ließen sich leider häufen.

So legt man das Buch mit einigermaßen gemischten Gefühlen
aus der Hand: dankbar dafür, daß ein wichtiger und
hochinteressanter Text Andreaes durch diese Neuausgabe
wieder leicht und bequem zugänglich geworden ist; doch
enttäuscht darüber, daß die Edition dieses Textes insgesamt
wohl allzu schnell und sorglos erledigt wurde.

Münster/Westf. Martin Greschat

Sommer, Wolfgang: Schlciennacher und Novalis. Die Chris to-
logie des jungen Schleiermacher und ihre Beziehung zum
Christusbild des Novalis. Bern: Herbert Lang und Frankfurt
/M.: Peter Lang 1973. 150 S. 8° = Europäische Hochschulschriften
. Bcihe XXIII: Theologie, 9. sfr. 32. — .
Schon der Untertitel weist darauf hin, daß es in der
Arbeit W. Sommers über Schleiermachcr und Novalis nicht
um den Vergleich zweier gleichberechtigter Größen gebt,
vielmehr steht im Mittelpunkt die Christologie des jungen
Schleiermacher. Es sollen „die cbristologiscbcn Anschauungen
des iungen Scbleiermacher dargestellt werden, wobei

die Blickrichtung auf Novalis im Dienste der Bemühung um
eine Aufbellung von Sc hleiermachers Gruiulinteiitioneu
steht" (15). Der Vf. kann damit eine Lücke schließen, die
trotz der zahlreichen Untersuchungen über die Entwicklung

Schleiermachers immer noch bestand, wobei ihm zugute
kommt, daß er die seit 1960 erscheinende historisch-kritische
Gesamtausgabe der Werke Novalis' zur Verfügung hat.
Der Vf. gellt bei seiner Arbeit sehr umsichtig zu Werke.

Nach einer ausfuhrlichen Einleitung, in der über Frage-
stellang, Metbode und bisherige Literatur berichtet wird,
folgt ein biographisch-zeitgeschichtlicher Abschnitt, der
Schleiermacher und Novalis in ihren Beziehungen zu den
großen Strömungen der Zeil darstellt, zu Pietismus, Aufklärung
, klassischer Philosophie (vor allem zu Eichte) und
zur Boamntik. Dabei wird deutlieb gemacht daß, Schleiermacher
und Novalis — obwohl sie sich nie persönlich begegnet
sind und ihre Bekanntschaft nur durch Friedrich
Schlegel vermittelt war — eine merk wind ige Übereinstimmung

in ihrem Bildungsweg aulweisen : Heide haben entscheidende
Eindrücke durch den Herrnhuter Pietismus empfangen,
beide brechen aus der engen Welt des Eierrnhutertums aus,
um am Ende im Kreis der Erühromanlik auf neue Weise
von ihrer Christusfröinmigkeit Zeugnis abzulegen.

Nach einem kurzen Uberblick über die philosophischen und
theologischen Grundgedanken Sebleicrmacbcrs kommt S.
schließlich zum eigentlichen Gegenstand seiner Untersuchung
. In drei Schritten wird die Christologie des jungen
Schleiermacher dargestellt. Der erste Schritt lief.-il.it sieh mit
der „Christusanschauung Schleiermachcrs in seinen frühen
Predigten" (59) (gemeint ist die Zeit zwischen 1789—90), der
zweite mit den „Heden über die Religion" (1799) und der
dritte schließlich mit der Christologie der „Weihnachtsfeier"
(1805). S. macht deutlich, daß sieh während der Tätigkeit als
Hauslehrer der Grafen Dohna in Schlobitten bereits die entscheidende
Rückwendung Schleiermachers zum Christus-
glauben vollzieht. Zwar liegt der Ton in den Predigten dieser
Zi'it ganz und gar auf der Bedeutung Jesu als Vorbild, als
„Verwirklichung wahren Menschseins" (70), aber es geht
doch schon um die Herausstellung der besonderen, einmaligen
..Würde Christi"' (78). Jedenfalls macht der Vf.
glaubhaft, daß es sieb die Schleiermacher-Interpretation zu
h iebt macht, wenn sie diese Predigten lediglich als „Dokumente
der morahsrh-i n I ellek t ualist isi ben Periode" Schleiermachcrs
wertet (7S55).

Der eigentliche Höhepunkt der Arbeil ist zweifellos der der
Zeit der „Reden" gewidmete Abschnitt, weil hier die Beziehung
zum Christusbild des Novalis zum Tragen kommt.
Der entscheidende Begriff ist dabei der des Mit llers, der nicht
nur bei den im engeren Sinne cbristologischen Darlegungen
der fünften Bede, sondern auch bei der Bestimmung des
Wesens der Bcligion in der zweiten Bede zugrunde liegt.
Hier sieht S. eine direkte Wirkung von Novalis auf Schleiermacher
. Denn gerade der Gedanke der Vermittlung von
Endlichem und Unendlichem ist für die Frühromantik
typisch, und er ist nicht nur in philosophischer Gestalt von
Friedrich Schlegel geäußert worden, sondern in der 1798 im
Athenäum veröffentlichten Eragmentensammlnng „Blütenstaub
" von Novalis bereits als theologischer Grundbegriff für
die Christologie fruchtbar gemacht.

Den Abschluß der Arbeit bildet schließlich die Erörterung
der Christologie der „Weihnachtsfeier", die freilich schon
nicht mehr der romantischen Periode Schleiermachcrs angehört
, sondern in die Zeit systematischer Beschäftigung mit
den Grundfragen der Theologie und der Kirche an der
Universität Halle fällt. Aber auch hier sieht S. noch Nachwirkungen
von Novalis' Gedanken. Novalis wird nicht nur
als christlicher Dichter gewürdigt, auch seine „christo-
zentrische Geschichtsschau" (141) scheint sich weiter auszuwirken
.

Das Buch schließt mit einem zusammenfassenden Bückblick
, in dem der Vf. am Ende deutlich macht, daß er seine