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Ausgabe:

1975

Spalte:

214-215

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Andreä, Johann Valentin

Titel/Untertitel:

Christianopolis 1975

Rezensent:

Greschat, Martin

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Seite 1, Seite 2

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letzte Offenbarung und stellen die doctrina faktisch über die
eschatologisch gerichtete Historie (S. 103). Darin liegt das
dem ursprünglichen reformatorischen (lutherschen) Ansatz
widerstreitende Moment von theologia gloriae (S. 81). Der
eschatologische Aspekt des Geschichtsverständnisses kommt
hier wenig zur Geltung, obwohl die Autoren der Zenturien
hinsichtlich der eigenen Zeit durchaus eine „eschatologische
Stimmung" erkennen lassen (S. 87f.).

Im Gegensatz dazu halle Francks Geschichtbibel eine
stark eschatologische Sicht nicht nur der Kirchen- und Heils-
geschichte, sondern der Weltgeschichte überhaupt vertreten.
Sic ist wesentlich offener für Welt-, insbesondere Machtprobleme
und betont dabei vor allem den Gerichtsgedanken.
Auch Christus wird hier wesentlich als Richter („Scharfrichter
" über das „Fleisch") gesehen (S. 30f.). Die Ver-
söhnung ist gleichsam „zum eschatologischen Ende verzogen
'' und erscheint wesentlich als Werk des Heiligen
Geistes (S. 41).

Kritisch vermerkt Vf. gegenüber der Geschichtbibel
Francks den spiritualistischen Einschlag, der zum Mißtrauen
gegenüber jeder Formgebung und damit jeder Gestalt
kirchlicher Gemeinschaft (die doch andrerseits als Abend-
mahlsgemeinschafl bejaht wird) führt (S. 43). Als wichtiges
positives, zugleich ursprünglich reformatorisches Element
verstellt Vf. das Vorherrschen einer theologia crucis in der
Geschichtbibel. Hierher gehören Francks Kritik an der
Verschmelzung von Kirche und weltlicher Organisation
und an jeder kirchlichen Machtentfaltung, seine Betonung
der Universalität der Liebe Gottes und der Solidarität der
Gläubigen mit, dem leidenden Herrn und der unter dem
Gericht stehenden Welt. Vf. sielil hier auch Momente der
Annäherung an ein modernes Verständnis von Diesseitigkeit
im christlichen Glauben (Utschimura, Bonhoeffer; S. 42ff.).
Das „Verhältnis von Gesetz und Evangelium" findet Vf.
bei Franck in bestimmter Hinsicht „reiner dargestellt als bei
den Reformatoren": Fr. habe das „Hinlängliche des Evangeliums
als Liebe verkündigende Abendmahlsgemeinschaft",
andrerseits den gesetzlichen und somit sündigen Charakter
„jeder menschlichen Organisationsform" schärfer gesehen
(S. 44).

Die gedankenreiche I Qtersuchung verdient Beachtung
nicht nur hinsichtlich der teilweise neuen Beleuchtung, in der
beide Geschichtswerke des l(i. .Iii.s. insbesondere Francks Geschichtbibel
, erscheinen, sondern auch als engagierter Versuch,
die Denkrichtung einer theologischen Geschichtsdeutung zu
markieren, mit der Kirchengeschichte als Teil des Weltgeschehens
ernstgenommen wird. Mit Rech) betont Vf.
freilich, er beabsichtige nicht ..zu einer normativen, allumfassenden
Beurteilung der Problematik der theologischen
Geschichtsschreibung zu kommen" (S. 5). Dazu hätte es in
der Tal weiterer theologischer und historiographischer Erwägungen
und des Eingehens auf die neuere Debatte zum
Themenkomplex Geschichtlichkeit und Kirchengesohichte
bedurft. Auch die vom Vf. selbst bezogene Position und
manche seiner theologischen bzw. theologiegesi'hichtlichen
Urteile bedürften noch genauerer Nachfrage. Das betrifft vor
allem die Art der Berufung auf Gedanken der Reformation,
das Verständnis von Evangelium, die Relation von Gesetz
und Evangelium (s.o.),von Versöhnung, Wort und (Hauben.
Eine theologia crucis, die nicht das Verständnis Christi als
des Versöhners voll zur Geltung kommen läßt, wird man
schwerlich als „reformatorisch" verstehen können.

Die deutsche Ubersetzung des Buches enthält zahlreiche
Wischen und sprachliche rnehcnheilen. gelegentlich auch
Formulierungen, deren Sinn nur zu erraten ist (z. U. S. 52:
Im Fingnngskapiti I jeder Zenlurie „wird angezeigt, von
weli In n Jahren der Leser die Geschichte in der betreffenden
Zenturie erwarten kann"), Sehr erfreulich ist die Ausstattung
des Buches mit zahlreichen Bildtafeln, hauptsächlich Wiedergaben
aus dein l.iber Cronicarum von II. Schede! (1493).

Berlin Rudolf Mau

2lk

Gabler, Ulrich: Ein wiederaufgefundenes Stück aus Zwinglis
Korrespondenz (Zwingliana XIV, 1974/1 S. 53-55).

Pater, C. Augustine: Karlstadts Zürcher Abschiedspredigt
über die Menschwerdung Christi (Zwingliana XIV, 11)74/1
S. 1-16).

KIRCHENGESCHICHTE: NEUZEIT

Andreae, Job. Valentin: Christianopolis 1619. Originaltext und
Übertragung nach D. S. Georgi 1741. Eingeleitet und
hrsg. v. R. van Dülmen. Stuttgart: Calwer Verlag 1972.
233 S. gr. 8° = Quellen und Forschungen zur württem-
bergischen Kirchengeschichte, hrsg. v. M. Brecht, und G.
Schäfer, 4. Lw. DM 18, — .

Der Entschluß zur Neuausgabe dieses wichtigen Werkes
von Johann Valentin Andreae ist eine vorzügliche Idee. Denn
nicht nur dem breit gestreuten Interesse der Gegenwart an
allem, was gesellschaftliche Utopie im weitesten Sinne genannt
werden mag. entspricht diese Edition: sie macht
dankenswerterweise auch einen wichtigen Text aus der nach
wie vor kaum erforschten Geistes- und Theologiegeschichte
Deutschlands im 17. Jahrhundert einer größeren Allgemeinheit
wieder bequem zugänglich.

In ei.....• knappen Einleitung (S. 11—19) skizziert der

1 [erausgeber den Standort des württembergischen Theologen,
Reformers und Schriftstellers Johann Valentin Andreae
(1586—1654) und versucht sodann. Wesen und Eigenart der
vorliegenden Schrift zu umreißen. Diese Einführung er-
scheint mir allerdings eher verwirrend als erhellend zu sein.
Heißt, die Christianopolis zunächst „Utopie" (S. 11), so
wird umgehend erklärt, daß die Besonderheit des Werkes aus
dieser Tradition nicht zu begreifen sei (S. 12). Vielmehr
handele es sich bei unsrer Schrift um ein Idealbild christlichen
Glaubensund Lebens (S. 13). Auch wenn man die hier
ganz nebenbei aufgestellte These einmal auf sich beruhen
läßt, daß es (dien der ..starke Reformwille" (S. 12) sei, der
den I nterschied der Christianopolis gegenüber allen Utopien
ausmache, so bleibt es doch einigermaßen merkwürdig, wenn
die Eigentümlichkeit dieses Buches nichtsdestoweniger auch
weiterhin als Utopie bezeichnet wird (S. 14)! Aber auch sonst
gehen die Charakterisierungen haut durcheinander: ein
Idealbild soll die Christianopolis sein, aber doch ein solches,
das schon jetzt zu verwirklichen ist; ein Hinweis, ein Appell,

eine Kritik am Bestehenden — und gleichwohl Programm zur
Realisierung der wahren christlichen Gesellschaft (S .15f.).
Natürlich ist nicht zu best reiten, daß sich alle diese Aspekte
tatsächlich In Andreaes Schrift linden. Nur wird ihr innerer
Zusammenhang kaum deutlicher, wenn man. sl.it I diesen
zu analysieren, allerlei Aspekte aneinanderreiht. Dabei verweist
Andreae scllist in seinem Vorwort — wie die Einleitung
ja auch zu Recht hervorhebt — auf die außerordentliche
Bedeutung von Johann Arnd und seinen „Vier Bflchern
vom Wahren Christentum" für die Christianopolis. Und
dieses gleiche Vorwort gibt auch wenigstens einen Hinweis
darauf, wie Andreae sellisl sein Buch verstanden wissen

wollte, wenn er dort schreibt: „urbem mihi ipse construxi,
ubi dictaturam exerceam, quam si corpusculum meum dicas,
nun abs re d i vi na veris"' (S. 32). Was damit gemeint ist. wird
allerdings nur verständlich und durchsichtig auf dem Hintergrund
der Emblematik des 17. Jahrhunderts, im Zusammenhang
einer Denkstruktur also, die Realitäten und Vorgänge,
die als Solche weder verfügbar noch greifbar sind, durch die
illustrative Erläuterung anschaulich macht. Andreae hat im
übrigen ja nicht nur hier Arndt Frhaiiiingsbuch auf diese
Weise auszulegen versucht: in seinen 1621 erschienenen
„Similia es Christianismo genuino Joh. Arndii" etwa hat er
am gleichen Stoff die gleiche Methode der emblematischen
Veranschaulichung praktiziert. Von dieser Struktur des
Emblems her erklärt sich also die Eigenart der Christianopolis
Andreaes: Das vom Vf. wieder und wieder betonte

Theologische Literaturzeitung 100. Jahrgang 1975 Nr. 3