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Ausgabe:

1974

Spalte:

143-146

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Hermann, Rudolf

Titel/Untertitel:

Ethik 1974

Rezensent:

Mau, Rudolf

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Theologische Literaturzeitung 99. Jahrgang 1974 Nr. 2

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Diese Sätze erinnern auffallend - z. T. bis in den Wortlaut
hinein - an Sätze K. Barths (K.D. IV 3/2), wo er
vom Volk Gottes im "Weltgeschehen handelt und einen
wichtigen Abschnitt seiner Ekklesiologie überschreibt:
Die Gemeinde für die Welt. Nach sehr selbstkritischen
Anfragen an die reformatorische und nachreforma-
torische Lehre von der Kirche und Hinweisen auf das
missionarische Defizit im ekklesiologischen Selbstverständnis
- verglichen damit war das der römisch-katholischen
Kirche „damals unleugbar im Vorsprung"
(S.878) - kommt Barth zu Formulierungen, die denen
Congars ähneln, nur daß jetzt die Wendung vollzogen zu
sein scheint. Barths Anfrage an die Missiologie der katholischen
Kirche lautete: Stand sie nicht stärker unter der
fatalen Parole „Die Welt für die Kirche !" als unter der
sehr anderen „Die Kirche für die Welt" ? (ebd.)

Ohne auf Barth Bezug zu nehmen (aber als Schlagwort
taucht es seit Jahren an vielen Stellen auf), greift Congar
diese These auf und deutet damit die gesamtkirchliche
Situation. Dabei darf er fraglos auf ein starkes ökumenisches
Echo rechnen; nicht zuletzt auch mit seinem Hinweis
auf die Gefahr, daß daraus keine Parole für die Verweltlichung
der Kirche gemacht werden darf. Wenn auch
ekklesiologische Positionen, die im Laufe der Geschichte
vertreten worden sind, sich als überholbar und überholt
erweisen - und hier geht Congar in kritischer Rückbesinnung
sehr weit (vgl. S.126) -, .so darf doch die Tatsache
nicht verkannt und übersehen werden, „daß sie, wie
sehr sie auch ganz für die Welt da ist, doch etwas anderes
ist als die Welt: die Frucht des übernatürlichen, auf die
Schöpfung, auf die Geschichte nicht rückführbaren Eingreifens
Gottes" (S.127).

Der darin sich ausdrückenden Intention sollte auch
jeder evangelische Leser zustimmen - und das macht ihm
die ganze Untersuchung in der Herausarbeitung auch der
oft verschlungenen, sich überschneidenden und in Spannung
zueinander stehenden Linien in der Ekklesiologie
von Augustinus bis zur Gegenwart zum Verständnis der
eigenen Position wichtig und hilfreich.

Neueudettelsmi Willielm Anders™

Hermann, Rudolf: Bibel und Hermeneutik. Mit einem Vorwort
hrsg. von Gerhard Krause. Berlin: Evang. Verlageanstalt u.
Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht [1971]. 319 S. gr. 8°
= Gesammelte und nachgelassene Werke, hrsg. v. H.Beint-
ker, J.Haar, G.Krause u. E.»Schott, III.
-: Ethik, hrsg. von Johann Haar. Göttingen: Vandcnhoeck
& Ruprecht [1970] u. Berlin: Evang. Verlagsanstalt [1973].
206 S. gr. 8° = Gesammelte und nachgelassene Werke, IV.

Die Erschließung des wissenschaftlichen Lebenswerkes
Rudolf Hermanns ist mit den hier anzuzeigenden beiden
Bänden ein großes Stück vorangekommen. Nachdem das
Kolleg über Luthers Theologie (— Bd. I der Ges. u. nach-
gel. Werke, vgl. ThLZ 95, 1970 8p.461 ff.) eine bedeutsame
Ergänzung im Bilde des bekannten Lutherforschers
brachte, kommt mit Bd. III und IV der Systematiker
R. Hermann in bisher weniger beachteten Bereichen seiner
Arbeit zu Worte. Es zeigt sich, daß er auch hier Eigenes
und bleibend Beachtenswertes zu sagen hat. Durch die
Weite seines Blickfeldes, die sprachliche und gedankliche
Urspriinglichkeit und Unbestechlichkeit beim Ausloten
dessen, was christlicher Glaube sagt und meint, vermag er
auch hier, den Leser herausfordernd und bereichernd,
immer wieder zur Sache der Theologie zu führen.

In beiden Veröffentlichungen hat der Leser es mit dein
Lebenswerk R.Hermanns sowohl der Zeitspanne nach
vie auch im existentiellen Sinne zu tun. Das Ethik-
iColleg hat R. Hermann seit dem Antritt der Greifswalder
Professur (192«) bis in die letzte Lebenszeit (19« 1/62)
turnusmäßig gelesen und ständig neu überarbeitet; Veröffentlichungen
zu hermeneutischen Fragen setzen, nach
früh erkennbaren Vorklärungen, 1935 ein und erscheinen
dann in dichterer Folge in der letzten Lebensphase. Mit
beiden Problembereichen war R.Hermann, wie die Herausgeber
zeigen (III, 9; 12f.; IV, 5f.; 9), von den Anfängen
an existentiell - und darum auch wissenschaftlich -
befaßt: mit den Fragen des Verstehens der Bibel als des
die Zeiten und den einzelnen vor Gott stellenden Wortes,
und mit den Fragen des sittlichen Urteilens, die unter
Gottes Wort und Glauben zwar nicht erst entstehen, wohl
aber hier ihren letztgültigen Wirklichkeits- und Sachbezug
gewinnen.

In seiner eingehenden Würdigung der Arbeiten zum
Themenkreis Bibel und Hermeneutik (III, 9-30) weist
G. Krause auf zwei Charakteristika hin: das bohrende
Fragen R.Hermanns „nach den letzten Gründen verantwortlicher
theologischer Aussagen" und sein „Bekenntnis
zur,Herrlichkeit der Bibel' wegen der in ihr Geschichte gewordenen
... Selbstkundgabe Gottes" (10). In der Tat
empfängt der Leser dieser Studien einen starken Eindruck
von dem intensiven Mühen R.Hermanns um die
Grundfragen theologischer Erkenntnis und Begriffsbildung
wie auch von seinem Achten darauf, daß das
durch die Bibel vernehmbare Wort Gottes theologisch
unverfügbar bleibt und der „nicht-theologische Bibelglaube
der Gemeinde" sein Recht behält.

Die Reihe der fast drei Jahrzehnte umfassenden Arbeiten
läßt überall den aktuellen Bezug erkennen, mag es
sich nun um die Auseinandersetzung mit den DC (31 ff.;
62ff.), mit einer problematischen „kirchlichen" Exegese
im Bereich der BK (u. a. W. Vischer, 38ff.) oder später um
die Abwehr einseitiger Betonung der formgeschichtlichen
Fragestellung handeln. R.Hermanns Bezugnahmen auf
aktuelle Problematik lassen dabei immer auch Unabhängigkeit
gegenüber momentanen theologischen und
kirchenpolitischen Frontverläufen erkennen. Wichtig
bleibt für ihn, daß die Bibel, wie er nicht müde wird zu
betonen, Menschheitsbuch ist, das Buch zwar, um das die
Gemeinde Christi sich sammelt, aber nicht bloß Besitz
oder gar Geheimlehre der (bzw. einer!) Kirche. So beziehen
sich die Fragen des Verstehens dessen, was in der
Bibel Gestalt geworden ist, für R. Hermann immer auch
auf den weiten Horizont menschlichen Verstehens und
Gestaltens überhaupt. Plato, Augustin, Luther, Goethe
(125ff.) oder auch Ch.Dickens (255ff.) sind als Zeugen und
Gesprächspartner zugegen; dichterisches Gestalten, musikalisches
(229f.) und schauspielerisches Verstehen und
Interpretieren (172f.) stellen von ihrer spezifischen Problematik
her die Fragen der Bibelhermeneutik in eine je
besondere, oft überraschende Beleuchtung.

Das Achten auf Analogien, auf Vorgänge und Methoden
des Verstehens ist bei R. Hermann darauf angelegt, gerade
die Einzigartigkeit der Bibel sehen zu lernen und zur
Geltung zu bringen. Es geht hier für ihn - mit dem Titel
der Studie von 195« - wesentlich um das Unterscheiden
von „Gotteswort und Menschenwort in der Bibel"
(138-183). Weil in der Bibel Gottes Wort zu vernehmen
und zu suchen ist, sieht R.Hermann sich immer wieder
veranlaßt, jeder Art menschlichen Herrschaftsansprueh*
über sie oder mittels ihrer entgegenzutreten. Die zeitgeschichtlichen
Bezüge in den Aufsätzen, Thesen und
Studien von 1935 an (s.o.) und das wiederholt angesprochene
, bleibende Gegenüber des evangelischen zun'
katholischen Bibel Verständnis und -gebrauch (40ff-J
277ff. u.ö.) lassen R.Hermann nachdrücklich diesen Gesichtspunkt
betonen. - Von den frühesten Arbeiten an
(s. Register) bezieht R.Hermann sich immer wieder aul
die These M.Kählers von der Bibel als „Urkunde der
kire.hengründenden Predigt", warnt aber vor einer den
ursprünglichen Sinn dieser These überziehenden Keryg-
ma-Theologic, für die Christus selbst in der Verkündigung