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Ausgabe:

1974

Spalte:

848-852

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Buchrucker, Armin-Ernst

Titel/Untertitel:

Wort, Kirche und Abendmahl bei Luther 1974

Rezensent:

Kandler, Karl-Hermann

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84?

Theologische Literaturzeitung 99. Jahrgang 1974 Nr. 11

t

848

ky, Die Religion der Hippies (S. 117—148), bestätigen noch
einmal an Hand dieser konkreten Strömungen den ambivalenten
Charakter der Religion. Im systematisch -
theologischen Schlußteil, in dem noch H. Przybilsky mit
einem Beitrag über Max Horkheimer (S. 173—192) und
W. Fischer mit Ausführungen über „Religion in der sozialen
Lebenswelt" (S. 192—212) zu Wort kommen, zieht
Marsch das Fazit in dem Aufsatz: „Zur theologischen Interpretation
von Religion" (S. 213—230). Die theologische
Interpretation der Religion soll an Hand von Unterscheidungskriterien
dazu helfen, einerseits Vor- und
Unterchristliches am heutigen Christentum zu erkennen
und abzuwehren und andererseits „christliche" Religion
zu artikulieren. Denn „das Christentum ist als historisches
Phänomen Religion — aber nicht alle Religion ist
identisch mit dem christlichen Glauben" (S. 214). In
Grundzügen zeigt Marsch eine solche Interpretation an
Kand der folgenden fünf zentralen Inhalte der christlichen
Glaubensüberlieferung:

1. Schöpfung. Der Mensch als Gottes Geschöpf ist „endliche
Freiheit" (S. 217). Das erklärt das Rätsel, den ambivalenten
Charakter der Religion, in der Abhängigkeit
und Freiheit, Bedürftigkeit nach Schutz, Trost und
Sinn und Einübung in die „Gottartigkeit" des Geschöpfs
nebeneinanderstehen. „Die Ambivalenz religiöser Phänomene
— stabilisierend/mobilisierend, weltfremd/weltzugewandt
, gemeinschaftsfördernd/den Einzelnen isolierend
, Ausdrude des Elends und Protestation usw. — ist
nicht nur notwendiges Übel, sondern sie gehört, christlich
gesprochen, notwendig zur Religion" (S. 219). Der Schöpfungsgedanke
läßt erkennen: Religion muß so ambivalent
sein, weil der Mensch endliche Freiheit ist, und es wäre
sinnlos, diese Ambivalenz zu leugnen, aber sie kann auch
nicht das letzte Wort in Sachen Religion sein, vielmehr
kommt es nun darauf an, sie vor dem Abgleiten in einseitige
Perversionen zu bewahren und von den Inhalten des
christlichen Glaubens her zu regulieren. Dazu aber reicht
der Schöpfungsglaube allein nicht aus. Dazu bedarf es
der folgenden Kriterien.

2. Sünde/Gesetz. In der christlichen Glaubenstradition
liegt ein Wissen darum, daß der Mensch im faktischen
Widerspruch zu seiner Bestimmung existiert und daher
Sanktionen und Normierungen braucht, aber auch, daß
das „Gesetz" kein Heilsweg sein kann. Von hier aus ist
ebenso als pervertierte Religion abzulehnen: ein nur ethi-
zistisches Streben nach Vollkommenheit ohne Wissen um
Sünde und Erlösung, aber auch eine Destruktion der endlichen
Freiheit in ein sklavisches Herr-Knecht-Verhält-
nis.

3. Christus/Rechtfertigung. Hier zeigt sich als entscheidendes
Kriterium: ..Nicht mehr die Macht des Numino-
sen, der übermächtige Herr und Vater, die Bindung an
einen totalen Sinngrund Gott ist religiös maßgebend,
sondern der in Jesu Mitmenschlichkeit und seiner Passion
sich seiner selbst entäußernde Gott. Jesus erkannte
gerade so die gesetzlosen, gottlosen, a-religiösen Menschen
an, schenkte ihnen Heil, Leben und Zukunft, sofern
sie nur diesen seinen Weg — Versöhnung durch
Selbstentäußerung — als für sich maßgebend anerkann
ten (imitatio Christi), ihre endliche Freiheit als geschenkte
akzeptierten, ihre Identität als eine ihnen zugesprochene
hinnahmen" (S. 222). Damit sind als außerchristlich
nicht nur alle religiösen Gestaltungen aufgedeckt, welch«
sich ungebrochen am irrationalen Erleben eines unpersönlichen
Numinosen erbauen, sondern auch solche, welche
nur Kollektive wie Sippe, Stamm oder Volk als unter
dem Zuspruch göttlicher Macht und Verheißung stehend
anerkennen. Dagegen ist als wegweisend für Reli
giosität im Sinne Jesu erkannt: „... die gelingende Ver
mittlung einer Ich-Identität durch Selbstentäußcrung an
Mitmenschen und Umwelt sowie durch Annahme auch
des unhellen Ich" (223).

4. Kirche. „Solange der Mensch, als endliche Freiheit
verstanden, religiöse Bedürftigkelten auch gesellschaftlich
organisieren muß, ist Kirche als .Religionsgemeinschaft
' legitimiert" (S. 226). In pervertierte Religiosität
gleitet Kirche erst dann ab, wenn sie durch ihre „Organisation
religiöser Bedürftigkeiten" verhindert, daß in ihr
das Neue, das Jesus ausgelöst hat, die „neue Welt, die
neue Menschheit" (S. 226) Raum gewinnen kann. Das hat
zur Konsequenz: es kann nicht länger als Allotria diffamiert
werden, wenn die Kirche beispielsweise im Umkreis
Ihrer Amtshandlungen im Zusammenhang mit Geburt
, den Höhepunkten des Lebens und dem Tod auch
kompensatorische Funktionen ausübt, also menschliche
Hilflosigkeiten ausgleicht oder in gesellschaftlichen Notlagen
antizipatorisch hilft. Es kommt aber darauf an, daß
es zugleich kritisch „im Licht der Reich-Gottes-Botschaft
Jesu geschieht" (S. 226).

5. Eschatologie. Sie ist Kriterium insofern, als sie einen
Horizont der Vollendung von Mensch und Welt im Reich
Gottes eröffnet, der als Ende der Geschichte gesehen wird,
womit alle irdischen Zielsetzungen als „vorläufige, revidierbare
" (S. 228) relativiert werden und zugleich dazu
ermutigt wird, von der jeweiligen Gegenwart her, am
Gedanken der Vollendung orientiert, konstruktive Zukunftsbilder
zu entwerfen. „Christliche Religion aktiviert
, mobilisiert zur Konstruktion solcher universal-zukünftiger
Sinn-Bilder" (S. 228).

Als Fazit des Buches, das sich auch als ein ausgezeichnetes
Beispiel interdisziplinärer Zusammenarbeit vorstellt
, ergibt sich: Religion ist nicht tot. Theologie und
Kirche dürfen sich nicht einseitig an die religionskritische
Strömung, welche Religion für überwunden hält, anlehnen
. Die „Verschränkung von Religion und Glauben"
(S. 229) ist nicht zu leugnen, sondern bewußt zu machen
und von den Inhalten des christlichen Glaubens her zu
lenken. Mit alledem will Marsch nichts eigentlich Neues
sagen, sondern in neuer Sprache wiederholen, was Paulus
in 2 Kor 4,7 sagt: „,Wir haben solchen Schatz in irdenen
Gefäßen'" (S. 230).

Rostock Helmut Frltzsche

Buchrucker, Armin-Ernst: Wort, Kirche und Abendmahl
bei Luther. Bremen: Stelten [1972]. X, 269 S. 8°.

Um es gleich vorwegzunehmen, es handelt sich bei dieser
Untersuchung um eine der besten Lutherstudien der
letzten Zeit, die Rez. zu sehen bekommen hat. Besonders
hervorzuheben ist die Methode, mit der Vf. an den an
und für sich oft bearbeiteten Stoff herangegangen ist. Er
hat beachtet, daß Luther kein systematischer Theologe
gewesen ist. Er beachtet jeweils das Gegenüber und Ist
so in seinem Urteil stets zurückhaltend, um pointierte
Aussagen Luthers nicht falsch zu bewerten. Bei Berücksichtigung
der jeweiligen Frontstellung kann man freilich
Luther auch systematisch untersuchen. Mit Recht
weist Vf. darauf hin, daß „das Konstante in seinen verschiedenen
Lebensepochen ... viel größer ist, als oft angenommen
wird". Die Absicht des Vf.s, „Luthers innerstes
theologisches Denken zu erspüren und abzutasten",
dürfte ihm gelungen sein, ohne „eigene theologische
.Wunschdeflnitionen' in sein Werk" einzubetten (VIII)
Neben der gründlichen Arbeit an den Quellen steht eine
nicht geringere Arbeit an der bisherigen Lutherforschung,
mit der sich Vf. laufend behutsam-kritisch auseinander
setzt.

Diese ekklesiologische Studie behandelt das Verhältnis
von Gniidenmitteln und Kirche, wobei, wie schon der
Titel angibt, die Taufe (leider!) ziemlich ausgeklammert
ist. Zunächst wird als Vorfrage die „regula atque norm«
in der Theologie Luthers" behandelt (1-56), dann „Luthers
Auffassung von der Kirche als Gemeine der Helll-