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Ausgabe:

1974

Spalte:

845-848

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Titel/Untertitel:

Plädoyers in Sachen Religion 1974

Rezensent:

Fritzsche, Helmut

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845

Theologische Literaturzeitung 99. Jahrgang 1974 Nr. 11

schichtlich verstehen zu können. Für die Theologen
macht es deutlich, daß die in den Denkmälern der Kunst
gegebenen Quellenaussagen nicht übergangen werden
dürfen. Hier bietet sich das RDK als zuverlässiges und
umfassendes Hilfmittel an, das seinen hohen wissenschaftlichen
Standard durchlaufend einhält.
Heldelberg Erika Dlnkler-von Schubert

SYSTEMATISCHE THEOLOGIE

Marsch, Wolf-Dieter [Hrsg.]: Plädoyers in Sachen Religion
. Christliche Religion zwischen Bestreitung und
Verteidigung. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus
Gerd Mohn [1973]. 238 S. 8° = Beiträge aus dem Inst. f.
Christi. Gesellschaftswissenschaften d. Univ. Münster
v. W. Fischer, W. Marhold, W.-D. Marsch, H. D. Mattmüller
, D. Neumärker, H. Przybylski, M. Schibilsky,
H. Weber. Kart. DM 24,-.

„Man trägt wieder Religion" (S. 13). Mit dieser Bemerkung
beginnt das von Marsch kurz vor seinem tragischen
Unfalltod gemeinsam mit einem Kreis jüngerer Autoren
verfaßte Werk über die Religion, in dem das Phänomen
Religion durch eine Reihe von „Plädoyers" aus den verschiedenen
theologischen und religionswissenschaftlichen
Fachbereichen abgehandelt wird. Die sog. „religiöse Welle
", die in den USA um 1966/67 in Kreisen der Protest-
Jugend entstanden und in Gestalt der Jesus-Bewegung
um 1971 in die BRD eingedrungen ist, bildet hierfür nur
einen äußeren Anknüpfungspunkt. Der dieser Strömung
gewidmete Beitrag von M. Schibilsky (S. 117-148) gibt
ein recht ernüchterndes Bild. Daß „die Jesus-Bewegung
einen angeblich so sprunghaften Aufschwung genommen
hat..." (S. 134), wird von daher gesehen, daß fundamentalistische
Minderheiten, „Sektler" und konfessionell
unbefriedigt Gebliebene hier Morgenluft witterten. Im
übrigen wird an Hand des vorliegenden Materials gezeigt
, daß die Jesus-Bewegung ihre Herkunft aus der
„politischen Protestkultur" vergessen hat und als „modische
Variante" den „Weg der Sekte" gegangen ist.

Das theologische Anliegen des Buches, das von Marsch
in dem einführenden Aufsatz „Die theologisch und kirchlich
verdrängte Religion" (S. 17-36) dargelegt wird, geht
über den aktuellen Anlaß weit hinaus und besteht darin,
die einseitige an K. Barth orientierte Abwertung der Religion
als Menschenwerk und Projektion des entfremdeten
Menschen und die daraus resultierende „unglückliche
Alternative" zwischen „Religion oder Glaube" (S. 229) zu
überwinden und zu einer neuen theologischen Wertung
von Religion zu kommen, die zwei Dinge leistet: 1. Sie
muß der tatsächlichen Rolle gerecht werden, welche die
Religion einnimmt: christlicher Glaube vermag sich „nur
religiös zu artikulieren" (S. 14), und die Kirche verdankt
ihr Uberleben nur der Tatsache, daß sie auch „Religionsgemeinschaft
" (S. 25) ist, daß sie also auch dem Bedürfnis
nach Religion entgegenkommt. Die nach 1945 unternommenen
Versuche, „... jene von Religion gereinigte
Kirche des reinen Wortes und die Gemeinde aktiven Bekennens
herzustellen ..." (S. 21), hatten wenig Erfolg.
..Kirchenpolitisch siegte O. Dibellus" (S. 19). - 2. Die
theologische Wertung der Religion muß dem „ambivalenten
" Charakter der Religion Rechnung tragen und darf
s'ch nicht einseitig an ein vorgegebenes Pro oder Contra
anbinden. Zusammenfassend heißt es im Vorwort: ..Als
engagiert christlich Denkender kann man kaum die
Augen vor der Tatsache verschließen, daß unser ganzes
Christentum Religion ist, christlicher Glaube sich nur re-
"giös zu artikulieren vermag. Und jedenfalls erweist sich
*lne .religionslose Theologie' oder auch eine Kirche, die
pe'lgion nicht aufzuarbeiten vermag, zunehmend als intellektuelle
Illusion, wohlgemeinte Augenwischerei oder

orthodoxer Hochmut. Andererseits erkennen wir, daß
dieses so ambivalente Phänomen - gerade wenn'man
sich ihm interdisziplinär annähert — interpretationsbe-
dürftig ist und bleibt. Vieles kann sich in der Religion
verstecken, sich mit ihr verbrämen" (S. 14/15). Die knappen
, Überblickshaften Plädoyers legen dann dar, wie die
einzelnen Disziplinen ihren Zugang zum Phänomen Religion
suchen und wie in ihnen jeweils das Pro und Contra
zur christlichen Religion verhandelt wird.

Im religionsphänomenologischen Bericht führt H. D.
Mattmüller aus: ob man wie van de Leeuw das Christentum
als Krone der Religionsgeschichte wertet oder dabei
bleibt, die Religionen nur miteinander zu vergleichen
(Widengren), um so ihre Eigenart zu profilieren, reli-
gionsphänomenologisch gesehen, bleibt alle Religion —
auch die christliche — ein ambivalentes Phänomen, und
es ist immer erst die persönliche Wertung, welche hier die
Akzente setzt. — Für die Religionspsychologie zeigt D.
Neumärker (S. 55-76): Die Funktion der Religion für die
Persönlichkeitsentwicklung des Menschen wird bei S.
Freud (in einer Linie seines Werkes) als „Infantilismus",
als Folge einer nicht geglückten Ablösung vom Vater, als
neurotische, ins Uberdimensionale gesteigerte Projektion
eines Haß-Liebe-Verhältnisses zur Vatergestalt recht negativ
gesehen. Dem steht gegenüber eine Hochschätzung
der Religion bei C. G. Jung, als eine für die
Persönlichkeitsentwicklung des Menschen beinahe unerläßliche
Einübung in ein Urvertrauen. So schwankt in
dieser Disziplin der ambivalente Charakter der Religion
zwischen beiden Extremen: Ausdruck einer Zwangsneurose
und Hilfe bei der Verhinderung von Neurosen. —
Der religionssoziologische Beitrag von W. Marhold (S. 77
bis 93) schildert die drei „klassischen Funktionsbestimmungen
der Religion", nämlich: die Integrationsthese:
Religion integriert die Glieder der Gesellschaft und erweist
sich so als „zusammenfassendes Band" (S. 80), die
Kompensationsthese: Religion als „Ausgleich, Ersatz,
eben als Kompensation für gesellschaftliche und individuelle
Widerwärtigkeiten und Frustrationen" (S. 82) und
die Säkularisierungsthese, welche die moderne Gesellschaft
als Endphase des religiösen Abbaus interpretiert.
Auch gesellschaftlich gesehen ist Religion ambivalent:
sie kann lähmen und faktisches Elend kompensatorisch
verbrämen, sie kann aber auch mobilisieren und antizi-
patorisch Impulse ausstrahlen für eine bessere Gesellschaft
.

In dem Aufsatz „Erneuerung und Bestreitung" (S. 149
bis 172) stellt dann Marsch mit Kant, Schleiermacher und
Hegel drei Beispiele der Erneuerung christlicher Religion
auf dem Boden der europäischen Aufklärung den
drei Bestreitern der christlichen Religion, nämlich
Feuerbach, Marx und Nietzsche, gegenüber und analysiert
, daß es beiden Seiten in mancherlei Hinsicht um
ähnliche Dinge gegangen ist, nämlich um neue Moral, um
Interpretation der Geschichte und das Fertigwerden mit
der Endlichkeit des Menschen, und daß der Streit zwischen
Religionserneuerung und Religionskritik um die
..Gottesfrage", also um die „Unentbehrlichkeit oder Entbehrlichkeit
, Vorgegebenheit oder Gemachtheit des Gottesproblems
" (S. 171) kreist. Die Lösungen sind theistisch
oder atheistisch orientiert. „So etwas wie eine .Theologie
nach dem Tode Gottes' taucht nicht auf" (S. 171). Marsch
kommt damit zu der Vermutung: ..So könnte es sein, daß
in dem neuzeitlichen Streit um die Wahrheit von Religion
sich theistische und atheistische Lösungen nicht epochal
überholen, sondern sich wiederholen" (S. 172). So ergibt
sich: Für und Wider in Sachen Religion liegen auf
allen Ebenen dicht nebeneinander und lassen sich nicht in
ein historisches Nacheinander ordnen. Zwei Beispiele
aus der Lebenspraxis, nämlich: H. Weber, Religiöse Aus-
drucksformen in der deutschen Jugendbewegung (S. 94
bis 116) und das bereits eingangs zitierte von M. Schibils-