Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1974

Spalte:

616-617

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Scholz, Günter

Titel/Untertitel:

Die Aufzeichnungen des Hildesheimer Dechanten Johan Oldecop (1493 - 1574) 1974

Rezensent:

Müller, Gerhard

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

615

Theologische Literaturzeitung 99. Jahrgang 1974 Nr. 8

616

In seinem Referat behandelt Tüchle die sog. Informatio
pro concilio contra Lutheranos, die in einem Sammelband,
der lateinischen Handschrift 3395 der Pariser Nationalbi-
bibliothek, enthalten ist, und fügt ihr die Textwiedergabe
des Anfangs der Schrift bei. Er macht glaubhaft, daß es sich
- trotz des später hinzugesetzten irreführenden Titels -
um ein Gutachten aus der Feder des Kardinals Ägidius von
Viterbo (1506-1518 General der Augustinereremiten) handelt
, das auf Anforderung des Papstes entstanden ist. Dieser
hatte die Kardinäle im Konsistorium vom 6. Februar
1521 gebeten, eine Instruktion für den Kaiser zu verfassen
in bezug auf die lutherische Angelegenheit. Worte des vorliegenden
Gutachtens finden sich in den päpstlichen Schiei-
ben an den Kaiser aus dieser Zeit wieder. Tüchle gibt eine
ausführliche Inhaltsangabe. Er weist darauf hin, dafj dem
Kardinal damals die lateinische Fassung von Luthers Schrift
„Warum des Papstes und seiner Jünger Bücher von D. M.
Luther verbrannt sind" vorgelegen haben muß. Er wertet
die Schrift als eine zwar in „polemischem Stil" geführte,
„aber doch recht wissenschaftlich" angelegte „Auseinandersetzung
mit Luthers Angriff" (S. 63) und er billigt Ägidius
eine „vornehme", Vf. meint wir würden heute sagen „ökumenische
Haltung" zu (S. 65). Dabei ist er den Argumenten
Ägidius' gegenüber nicht unkritisch (vgl. S. 58), und er weiß,
darj hier keine theologische Kontroversschrift vorliegt, die
auf das religiöse Anliegen Luthers eingeht.

Warum stimmen die Titel des Referats in Inhaltsverzeichnis
und Text nicht überein?

Nachdem in den letzten Jahren verschiedentlich die Bitte
geäußert worden ist, den Bann gegen Luther aufzuheben
und nachdem Kardinal Willebrands 1970 auf der fünften
Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes in Evian
mitgeteilt hatte, der Heilige Vater erachte das im gegenwärtigen
Zeitpunkt nicht für möglich, stellt Iserloh in sechs
Punkten zusammen, was aus der Sicht des Reformations-
geschichtlers gegen diese Aufhebung spreche.

Er meint, sie sei weder sinnvoll noch redlich, denn der
„Bann ist ein deklaratorisches Urteil, daß sich jemand mit
bestimmten Lehraussagen außerhalb der Kirche gestellt
hat. Ohne Änderung der theologischen Sachlage kann eine
solche Erklärung nicht geändert werden" (S. 78). Deshalb sei
es sehr fraglich, ob nach dem Tode jemand vom Bann gelöst
werden könne.

In der Zeit zwischen der Bannandrohungsbulle und dem
Bann selbst war Luther noch weiter von der katholischen
Kirche seiner Zeit abgerückt. Das sei zu beachten.

Zwar sieht Iserloh, dafj Luther wider Willen - allerdings
auf Grund seiner Heftigkeit und Ungeduld nicht schuldlos -
durch die damaligen Zustände der katholischen Kirche in
seine Position gedrängt worden ist. Doch er meint, man
könne die Lehrabweichungen bei Luther jetzt nicht einfach
ignorieren, zumal die Lutheraner sie heute selbst nicht
mehr alle aufrechterhielten, z. B. die bezüglich des Amtes
und des Meßopfers (sie!).

Er hält ein Schuldbekenntnis (vgl. Hadrian VT, Paul VI.)
für angemessener als eine Aufhebung des Bannes, der sachlich
berechtigt und in der Folgezeit durch viel weitergehende
kirchentrennende Fakten nicht nur bestätigt, sondern
erhärtet worden sei.

Da Luther und vor allem Mclanchthon ihre extremen Positionen
Ende der zwanziger Jahre weitgehend revidiert
hätten (sie!), die spätere Zeit aber auf die Anfangspolemik
zurückgegriffen hätte, sieht Iserloh es als verhängnisvoll
an, entfiele durch eine Aufhebung des Bannes die Aufarbeitung
der Polemik von 1519'1521.

Der Fall Luther läßt sich nicht mit der Exkommunikation
von 1054 vergleichen, weil es damals wesentlich um Fragen
der Disziplin gegangen und die Verurteilung später irrtümlicherweise
nicht mehr auf bestimmte Personen, sondern
auf Kirchen bezogen worden sei. Diese Konsequenzen seien
1965 beseitigt worden.

Es ist außerordentlich fesselnd, zu beobachten, in welch
unterschiedlicher Weise katholische Forscher an die Problematik
der Reformationszeit herangehen.

Leipzig Ingetraut Ludotphr

Scholz, Günter: Die Aufzeichnungen des Hildesheimer De-
chanten Johan Oldecop (1493-1574). Reformation und katholische
Kirche im Spiegel von Chroniken des 16. Jahrhunderts
. Münster/W.: Aschendorff (1972). XVI, 104 S.
gr. 8" ■ Reformationsgeschichtliche Studien und Texte,
in Verb. m. H. Jedin, T. Freudenberger, R. Bäumer, E.
Iserloh, K. Repgen u. E.-W. Zceden hrsg. v. A. Franzen,
103. Kart. DM 20.-.

Nachdem E.-W. Zeeden im „Handbuch der Kulturgeschichte
" 1968 Oldecops Chronik kulturgeschichtlich ausgewertet
hatte, benutzt sie sein Schüler Scholz in der vorliegenden
Dissertation als Quelle für „die innere Verfassung
eines katholischen Menschen im Zeitalter der Glaubensspaltung
". In bezug auf die Fakten ist die Chronik
nur mit höchster Vorsicht zu gebrauchen. Aber sie gibt das
Denken eines Mannes wieder, der eine zunehmende Verschlechterung
der Welt konstatiert, die er auf die Reformation
zurückführt.

Dabei ist besonders wichtig, daß Oldecop 1515-1517 in
Wittenberg studiert hat und nicht nur Vorlesungen Luthers
hörte, sondern auch sein Ministrant und Beichtkind gewesen
ist. Dessen Frage nach dem gnädigen Gott hat ihn
aber nicht berührt, so daß er in seine Heimatstadt Hildesheim
zurückkehrte, ohne daß ihn dieser Studienaufenthalt
entscheidend geprägt hätte. Das gilt auch in Hinsicht auf
seine Gegnerschaft gegen das Luthertum: Erst in den zwanziger
Jahren distanzierte er sich von der lutherischen Lehre
, die er nun für die Ursache „allen Unheils in der Welt"
hielt.

Bedeutung und Grenzen der Chronik Oldecops werden
durch die Darstellung Scholz' offensichtlich. Durch den Vergleich
mit anderen Werken dieser Quellengattung wird
festgestellt, daß sich der Hildesheimer nicht mit einem
chronistischen Bericht begnügte, andererseits aber auch
nicht ein rein kontroverstheologisches Werk schrieb. Es
hat vielmehr von beidem etwas. Dabei hätte noch deutlicher
herausgearbeitet werden können, daß die chronistischen Ansprüche
kaum wahr gemacht werden. Zwar behauptet der
Hildesheimer, daß er nur die „reine Wahrheit" berichte,
aber davon ist er in Wahrheit weit entfernt.

Der Vf. charakterisiert Oldecop zu Recht als einen zwar
überdurchschnittlich gebildeten Menschen, dessen Wissen
aber oberflächlich war, dem tiefere Verbindungen zum Humanismus
, eine „fundierte theologische Bildung" und „For-
mulicrungsgabe" gefehlt haben.

Die im Untertitel der Arbeit genannte Thematik wird
eigentlich nur an Oldecops Chronik entfaltet. Es fehlen zwar
nicht Verweise auf Parallelen und Unterschiede in anderen
Chroniken des 16. Jh.s. Aber die Grenze dieser Analyse wird
von Oldecops Aufzeichnungen bestimmt. Hier wäre cinc
breitere Basis erforderlich gewesen, wenn dem Anspruch
des Untertitels hätte Genüge getan werden sollen. Statt
dessen hätten manche Wiederholungen gestrichen werden
können. Es überzeugt auch nicht das Argument, daß der
Hildesheimer Stiftsherr die Verunglimpfung der Reformation
vorgenommen habe, um die Anhänger der römisch-katholischen
Kirche von dieser Gruppe abzuschrecken. Denn dann
hätte er an cinc Publikation seiner Chronik denken müsset
Eine solche ist von ihm aber nicht betrieben, sondern 0"*
die Hoffnung geäußert worden, daß spätere GencrationC
„Einblick in die Aufzeichnungen nehmen" würden. M'1f1
wird deswegen anzunehmen haben, daß es Oldecops pcl"
sönliche Lage in Hildesheim und die dort durch die Rcf<""
mation gefährdete materielle Existenz der römisch-kath"'