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Ausgabe:

1974

Spalte:

448-449

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Ernst, Johannes Theodorus

Titel/Untertitel:

Die Lehre der hochmittelalterlichen Theologen von der vollkommenen Erkenntnis Christi 1974

Rezensent:

Heidrich, Peter

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Theologische Literaturzeitung 99. Jahrgang 1974 Nr. 6

448

Exegese und das Handeln. Die Ethik steht also vor der
Dogmatik, das Leben vor der Lehre, die aber ihrerseits
wieder zur Handlung führen soll. Auf diesen Zirkel
spielt der Buchtitel an. Das Problem ist, wie Erkenntnis
und Verwirklichung, Idealismus und Realismus.
Glaube und Liebe zusammengebracht werden sollen.
Der Vf. hilft sich nun so, daß er zwischen Absicht und
Durchführung bei Erasmus unterscheidet. Die Systematik
ist das Zentrale. Er behandelt das dogmatische
Mittelstück in einem ersten Teil „Die Wissenschaft und
ihre Quellen" und dann erst die Ethik „Der Mensch und
sein Handeln". An dieser Systematisierung könnte sich
Kritik entzünden. Aber anders war Erasmus wohl kaum
darstellbar. Skopus und Ordnungsprinzip Erasmischer
Theologie ist Christus. Die Christologie ist dichoto-
misch, Gott und Mensch. Nur Gott überbrückt den
Gegensatz. Diese Christologie trifft aber auf eine tricho-
tomische Anthropologie (Geist, Seele, Leib), wobei der
Geist auf die göttliche Seite gehört und die Seele der
Zwischenbereich ist, der sich nach oben oder unten
orientieren kann. Anders als in der dualistischen Christologie
ist der Übergang zum Göttlichen in der Anthropologie
angelegt. Man könnte darum den Einsatz bei der
Ethik gegen Hoffmann doch noch erwägen. Die Wiederherstellung
des Menschen durch Christus ist vor allem
auch eine Wiederherstellung und rechte Ordnung seiner
triadischen Organisation, die nach Erasmus alle Bereiche
menschlichen Existierens bis in die Gesellschaftsstrukturen
bestimmt. Der Aufweis dieser triadischen
Organisation des Menschen in der Anthropologie des
Erasmus ist sehr einleuchtend und anregend. Der Plan,
dies bis in die Soziologie des Erasmus hinein ausführlich
zu demonstrieren, wurde vom Vf. nicht verwirklicht
. Von seinem Veständnis des Erasmischen Denkens
kommt Vf. zu einem sehr (fast zu sehr) kunstvollen
Aufbau seiner Darstellung. Er geht davon aus, daß
Erasmus beabsichtigt habe, seine Wissenschaftslehre,
seine Theologie deduktiv zu entwickeln, sie aber dann
doch induktiv von der triadischen Anthropologie her
ausgeführt habe. Hier liegt für ihn die große Spannung
in der Systematik des Erasmus. So umfaßt die Wissenschaftslehre
dann doch drei Teile: Theologie, Philosophie
und Natur. Die Theologie ist die Krone aller
Wissenschaften. Aber nur der Geistliche versteht die
geistliche Schrift. Das Prinzip, Gleiches wird nur durch
Gleiches verstanden, spielt bei Erasmus eine große
Rolle. Die Schrift steht ihrem göttlichen Urheber sehr
nahe. U. u. ist diese Ursprünglichkeit durch die Textkritik
wieder herzustellen. Die Allegorese als Auslegungsmethode
ergibt sich aus dem Bezogensein der
Schriftworte auf Christus. An Christus selbst wird die
Harmonie und varielas in Leben und Lehre festgestellt,
wobei die varietas durch die Inkarnation verursacht ist,
die ihren Sinn in der Akkomodation Christi an die
menschlichen Verhältnisse hat. Hier bleibt ein doke-
tischer Einschlag. Das Verhältnis Christi zu den Jüngern
ist das von Urbild und Abbild. Die Harmonie bezeichnet
die Einheitlichkeit des Lebens Christi in der Einheit mit
dem Vater, die seine Lehre ausspricht. Ethik und Lehre
sind hier eins. Die Theologie ist der Geist der Wissenschaft
. Nach ihr haben sich die Philosophie als die Seele
und die Natur als der Leib der Wissenschaft zu richten.
In diesem Zusammenhang geht Vf. u. a. auch auf das
Verständnis der Dialektik bei Erasmus als Buchstaben-
Wissenschaft und ihr Verhältnis zu Rhetorik ein. Die
Sympathie des Erasmus für den platonischen Idealismus
vor Aristoteles wird sichtbar gemacht.

Auch in der Anthropologie und Ethik (!es Erasmus
macht sich die ursprüngliche Spannung bemerkbar. An
sich tut Gott im Heilswerk alles. Sein Anfang und Ende

liegen in Gottes Hand. Aber das Fortschreiten zur Restauration
geschieht unter Mitwirkung des Menschen.
Gebet und Selbsterkenntnis sind die Mittel des Menschen
im Kampf gegen das Laster. Das Problem wird folgendermaßen
zusammengefaßt: . . Erasmus anerkennt
..Schöpfung und Erlösung als unmittelbare Taten Gottes
, gleichsam ex nihilo. Daran findet er aber weniger
Interesse als am zweiten Artikel, der Christologie, die
er jedoch als Inkarnation im Sinne der Akkommodation
begreift. Eine so verstandene Christologie kann dann
als Angelpunkt dienen, um eine weitgehend selbständige
Anthropologie anzuhängen, christlich zu taufen,
theologisch zu rechtfertigen und schließlich mit einer
gleichfalls selbständigen Philosophie und Ethik zu koordinieren
" (S. 196). Gut ist in diesen Zusammenhang
das Problem der Willensfreiheit eingeordnet. Da
der Dualismus zwischen Gott und Mensch in der
trichotomischen Organisation des Menschen insoweit
überbrückt ist, daß sich der am Geist orientierte
Mensch Gott annähern, wenn auch nicht identisch
mit ihm werden kann, kommt der Willensanstrengung
faktisch große Bedeutung zu. Die trichoto-
mische Realität des Menschen verhindert dabei sein
Aufgehen im Göttlichen. Die Spannung von Realismus
und Spiritualismus bleibt erhalten. Ausführlich werden
die menschlichen Affekte und ihre richtige Bildung, bei
der das Wort eine Rolle spielt, dargestellt. Auf dem
Tugendweg erfährt der Mensch am Ende eine Transformation
(Wiedergeburt). Das Neu werden ist als Entwicklungsprozeß
, nicht als Neuschöpfung verstanden.
Das Ziel des Weges wird charakteristisch doppelt bezeichnet
, nämlich auf die ursprüngliche Schöpfung bezogen
als Restauration oder eschatologisch als ungebrochene
Gemeinschaft mit Gott.

Aufgrund der vorliegenden Untersuchung läßt sich
das theologische Wollen des Erasmus folgendermaßen
umschreiben: Erasmus hat eine bedeutsame Synthese
gesucht zwischen dem Dualismus von Gott und Welt,
der von ihm als Struktur der Wirklichkeit durchaus erkannt
war, und einer die Gegensätze ausgleichenden Anthropologie
. Die Akkommodationschristologie stellte dabei
die Verbindung her. Ob damit nicht Unvereinbares
zusammengebracht war, blieb die Frage. Jedenfalls versteht
man, warum Erasmus so vielen Positionen des
16. Jahrhunderts nahe stand und dennoch bei der Scheidung
der Geister sich keine Seite mit ihm identifizieren
konnte. Der Führung und Einführung dieses Buches in
die Theologie des Erasmus vertraut man sich gerne an.
Hier ist mindestens eine fundierte und differenzierte
Arbeilshypothese zum Verstehen der Theologie des
Erasmus entwickelt worden, auf deren Bewährung in
der Diskussion man gespannt sein darf. Erwähnt seien
schließlich die vielen glänzenden Einzelbeobachtungen
und die gediegenen Untersuchungen zu Einzelbegriffen
und Begriffsfeldern bei Erasmus, beides durch die Register
erschlossen, die die Arbeit auch zu einem Nachschlagewerk
für Erasmus machen.

TUblngpn Martin Brecht

Ernst, Johannes Theodorus: Die Lehre der hoch mittel"
alterlirhcn Theologen von der vollkommenen Erkenntnis
Christi. Ein Versuch zur Auslegung der klassischen
Dreiteilung: Visio Beata, Scientia Infusa und Scientia
Acquisita. Freiburg—Basel—Wien: Herder 1971. 320 S
gr. 8° = Freiburger Theologische Studien, hrsg. v.
J. Vincke, A. Deissler, H. Riedlinger, 89. Kart. DM 44,-^

Das Buch wurde als Dissertation für die Theologische
Fakultät Freiburg erarbeitet. Es versteht sich als Bellrag
zur gegenwärtigen römisch-katholischen Christo-