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Ausgabe:

1974

Spalte:

428-430

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Siber, Peter

Titel/Untertitel:

Mit Christus leben 1974

Rezensent:

Betz, Otto

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Theologische Literaturzeitung 99. Jahrgang 1974 Nr. 6

428

Die religionsgeschichtlichen Parallelen zum „Vorhang"
werden in überzeugender Weise geordnet. Die vier wichtigsten
Gruppen seien kurz skizziert: a) Die Pargot-
Spekulation der Märkabhah-Mystik über einen Vorhang
vor dem Thron Gottes, deren Zusammenhang mit
Annahmen über ein dem Jerusalemer Tempel entsprechendes
himmlisches Heiligtum zwar nicht direkt belegt,
aber wahrscheinlich ist. b) Die rabbinische Wilon-Vor-
stellung eines Vorhangs /wischen Himmel und Erde, die
vielleicht aus der Vorstellung vom Himmelszelt entstanden
ist. c) Die jüd.-hellenistische Stiftszeltsymbolik
bei Philo und Josephus, nach der der Tempelvorhang
die Grenze zwischen Himmel und Erde symbolisiert,
d) Der „gnostische" Vorhang zwischen Pleroma und Kosmos
, der entweder Werk des Urvaters oder der gefallenen
Sophia ist, Die traditionsgeschichtliche Auswertung
dieser Parallelen geschieht m. E. etwas einseitig:
Gegen eine Ableitung des „Vorhangs" im Hebr aus der
Pargot-Spekulation spricht eben jenes chronologische
Argument, das so viele Ableitungen aus dem Gnostizis-
mus zu Fall gebracht hat: Die Texte der Märkabhah-
Mystik stammen aus nachneutestamentlicher Zeit. Gewiß
können die Traditionen selbst älter sein, das gilt
aber auch für gnostische Traditionen. Bei einer Widerlegung
Käsemanns ist es auf jeden Fall empfindlich
störend, wenn die Pargot-Spekulation für Anfang bis
Mitte des 2. Jh. n. Chr. ausgerechnet mit jenem gnosti-
schen Text belegt werden soll, auf den sich Käsemann
stützte: Exc. ex Theod. 38,1. Die Behauptung, sie ließe
sich hier aus ihrem gnostischen Kontext herauslösen
und erwiese sich dann als „rein jüdisch" (S. 14), überzeugt
wenig, wenn später überzeugend gezeigt wird,
daß fast alle gnostischen Vorhangs-Spekulationen auf
jüdische Traditionen zurückgehen. Daraus folgt doch
wohl, daß sich Gnostisches und Jüdisches nicht so klar
einander entgegensetzen lassen, wie H. meint. Von der
Chronologie der religionsgeschichtlichen Parallelen ist
nun aber eindeutig Philo und Josephus der Vorzug zu
geben, zumal bei ihnen die Vorhangs Vorstellung wie im
Hebr im Zusammenhang mit Spekulationen über die
Tempelsymbolik begegnet, ein Zusammenhang, der für
die Pargotvorstellung erst erschlossen werden muß. Da
nun Philo auch sonst viele traditionsgeschichtlich vermittelten
Beziehungen zum Hebr zeigt, wären ihm m. E.
etwas mehr als 9 Zeilen (S. 23) zu widmen.

Die einseitige Auswertung religionsgeschichtlicher
Parallelen ist sachlich in der 2. These begründet: Wenn
der Hebr keinen Vorhang zwischen Himmel und Erde
kennt, wäre es u. U. richtig, entsprechende Belege bei
Philo auszuscheiden. H. kann in der Tat zeigen, daß
„hagia" oft nur das Allerheiligste bedeutet, nicht das
ganze (himmlische) Heiligtum, daß also oft von einem
innerhimmlischen Vorhang die Rede ist. Seine These
scheitert aber an 9,24: Wenn Jesu Gang ins Allerheiligste
ein „Hineingehen in den Himmel selbst" ist, so ist
das Durchschreiten des Vorhangs Betreten des Himmels
und deswegen Trost und Hoffnung für die auf Erden
befindlichen Christen (6,9 und 10,20), die sich nach ihrer
himmlischen Heimat sehnen (11,14 ff.). Im Hebr ist das
Durchbrechen der Grenze von Himmel und Erde
sotertologisch entscheidend, mag der spekulative Parallelismus
von himmlischem und irdischem Heiligtum
und die himmlische Topographie auch dadurch in Unordnung
geraten. Erklärt sich nicht manche Ungereimtheit
daraus, daß das, was bei Philo und Josephus Symbol
ist, im Hebr als Wirklichkeit dargestellt werden
muß?

In einem Punkt hat die Kritik an der religionsgeschichtlichen
Schule wohl recht: Die ntl. Christologie
läßt sich kaum aus einem gnostischen Erlösermythos ableiten
. Zwar will H. gewisse sachliche Entsprechungen
(also nicht genealogische Zusammenhänge) zugestehen
(S. 79 A. 170"»; aber er möchte sie minimalisieren. So
interpretiert er in 10,20 „Fleisch" nicht als Apposition
zum Vorhang, sondern als adverbiale Bestimmung zur
Erneuerung des Weges. Vergleichbare parenthetische
Erläuterungen mit „dies ist..." in 2,14 7,5 9,11 11,16
13,15 sind jedoch immer Appositionen, so daß kein
Grund vorliegt, hier etwas anderes zu erwarten. Zu der
merkwürdigen Vorstellung, daß Jesus zugleich durch
den Vorhang geht und die Öffnung selbst darstellt vgl.
Ignatius Philad. 9,1 (eine Stelle, die leider nicht behandelt
wird): Danach geht Jesus als Hohepriester ins
Allerheiligste, ist aber zugleich die „Tür" zur „Einheit
Gottes ' — klingt das nicht schon sehr gnostisch?

Es sei jedoch ausdrücklich betont: Hinsichtlich des
religionsgeschichtlichen Charakters des Hebr sind die
Positionen nicht unvereinbar. Bisher lautete die Alternative
oft Apokalyptik oder Gnosis. Hofius greift in
seiner neuen Veröffentlichung jedoch nicht mehr auf die
Apokalyptik, sondern die mystische Strömung der
Märkabhah-Esoterik zurück. Auf der anderen Seite
wird der Gnosisbegriff heute weitgehend unabhängig
von einem Erlösermythos bestimmt und stärker zwischen
dem Gnostizismus des 2. Jh. n. Chr. und verwandten
Strömungen im 1. Jh. unterschieden. Vielleicht
könnte man sich darauf einigen, daß es im 1. Jh. einer,
akosmischen, dualistischen Erlösungsradikalismus gegeben
hat, der nicht in der Durchsetzung der Schöpfungsintentionen
in dieser oder in einer neuen Welt das
Heil suchte, sondern in der Rückkehr zum Ursprung vor
der Schöpfung, ohne daß diese Schöpfung absolut verteufelt
wird. Diese Strömung findet sich bei Philo, im
JohEv, im Hebr, bei Ignatius v. Antiochien — ob man
sie „Gnosis" nennt, ist eine Frage zweitrangiger Bedeutung
. Die religionsgeschichtliche Schule hat diese
Strömung zum ersten Mal in ihrer Eigenständigkeit
gegenüber AT, Apokalyptik, synoptischer Tradition erfaßt
, sie jedoch zu sehr vom späteren Gnostizismus her
interpretiert. Heute ist es an der Zeit, auch ihre Eigenständigkeit
gegenüber diesem zu betonen, ohne die Zusammenhänge
zu leugnen: Sie führt wohl zum Gnostizismus
, ist aber mehr als eine bloße Vorstufe. Dies ist
m. E. der positive Ertrag der Kritik an der religions-
peschichtlichen Schule.

Das klar und durchsichtig geschriebene Buch von O.
Hofius ist auf jeden Fall ein wichtiger Beitrag zur Diskussion
um die religionsgeschichtliche Einordnung des
Hebräerbriefes. Es enthält eine Fülle neuer Aspekte
und neuer Lösungsmöglichkeiten. Wer die Arbeit der
religionsgeschichtlichen Schule für verfehlt hält, wird
es begrüßen. Wer ihre Arbeit fortsetzen will, ohne ihre
Fehler zu wiederholen, wird von ihm lernen.

Bonn Gerd TheHJen

Siber, Peter: Mit Christus leben. Eine Studie zur pauli-
nischen Auferstehungshoffnung. Zürich: Theologischer
Verlag [1971]. 272 S. gr. 8° Abhandlgn zur Theologie'
des Alten und Neuen Testaments, hrsg. v. O. Cull-
mann u. H.-J. Stoebe, 61. Lw. DM 26,(10.

Dieses Buch, dem eine unter Prof. Dr. S. Schulz in
Zürich abgefaßte Dissertation zugrunde liegt, bietet eine
exegetische Entfaltung der Sätze, in denen Paulus vom
Leben mit Christus spricht. Dabei werden drei Arten
solcher Aussagen unterschieden: 1. Die noch ausstehende
Gemeinschaft des Christen mit dem erhöhten
Herrn, entweder bei der Parusie (1 Thess 4,14—17) oder
aber unmittelbar nach dem Tode (Phil 1,23). Die Prü-