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Ausgabe:

1974

Spalte:

394-395

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Havers, Norbert

Titel/Untertitel:

Der Religionsunterricht, Analyse eines unbeliebten Fachs 1974

Rezensent:

Jürgens, Heiko

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393 Theologische Literaturzeitung 99. Jahrgang 1971 Nr. 5 AM

Mit dem Aspekt einer allersspczifischcn „Therapie" ist der Diskrepanz zwischen Wirklii liU. il und Konzeption angelegt
Vf. zur vierten Kategorie neuer Formen des KU gelangt: der sein. Einer Freiwilligkeitskirehe würde auch daran gelegen
Reform durch die Aufnahme neuer Bezugsdisziplinen „ein, bei aller Offenheit für die bedrängenden Fragen und
(S. 185 ff). Nach K. Dienst gehören hierher alle Modelle, die Probleme der Jugendlichen, zur Erhellung ihres eigenen
sich in der Theoriebildung von den liezugsdisziplinen Sclbstvcrstündnisscs beizutragen: Der ekklesiologische
„Soziidisatiousforschung, Sozialpsychologie und Gruppen- Aspekt darf neben dem soziologischen nicht zu kurz kommen,
dynainik'l bestimmen lassen. Der Vf. denkt u. a. an KU als Zum Schluß noch eine kurze Bemerkung am Hände: Nicht
Sozinlisationsbeglcilung (kirchliche Begleitung Jugendlicher nur in Westdeutschland sind neue Formen des KU entin
der piiberalen Ablösungsphase). Entsprechende Unter- wickelt worden, sondern auch in der DDR. Solche kritischen
richlskonzeptioncn legen besonderen Wert auf das Erkennen Anfragen lieben den Eindruck nicht auf, daß die vorgelegte
und Gestalten von Gruppenprozessen und auf eine seel- Untersuchung eine Lücke ausfüllt: Wer sich über Reformen
sorgerlich-therapeutisehe Ausrichtung. An die Stelle von des KU Gedanken macht, wird aufgrund verschiedenartiger
Stofforientierung und kognitivem Lernen tritt in der Mo.lellvorstellungen Anregungen zum eigenen Kxpcrimeii-
Unterrichtsplanung die Orientierung an den Grundinoti- tieren erhalten. Die Überlegungen zur Theoriebildung decken
vationen des Konfirmanden, an der emotionalen Sphäre. Der die Einflüsse einiger liezugsdisziplinen auf und setzen damit
Konfirmand selbst wird zum Gegenstand des KU, im sogleich kritische Maßstäbe.
Kähmen der puberalen Ablösungsphase soll dal Evangelium

zur Gellung gebracht werden. KU steuert dann als Ziel an: nerhn K,H", KmM
., Vcrhaltensünderung im Bereich von Werten, Normen und
Sinndeutungen" (S. 193); die „Inhalte" eines therapeutischen
Unterrichts „ergeben sich aus der psychologischen
und soziologischen Analyse der Situation der Konfirmanden"
(S. 193).

In einer kurzen Schliißbenierkuiig (S. 235 f.) faßt der Vf.

Anliegen und Standpunkt seiner Untersuchung noch einmal Hävers, Norbert: Der Religionsunterricht - Analyse eine»

zusammen. Mit der Information über neue Formen des unbeliebten Fachs. Eine empirische Untersuchung.

Konrirmandenunterrichts will er zugleich die Hauptpro- München: Kösel-Verlag [1972]. X, 277 S. gr. 8°. Kart,

blemc dieses kirchlichen Auftrags umreißen. Dabei gelangt er 28, — .

zu folgenden Ergebnissen: 1. Große Unsicherheit herrsche in Da keinem theologischen Forscher die Lage am „Absatz-
den Ziclvorstellungeu : „Der KU als Vermittlung einer markt", der kirchlichen und schulischen Praxis, gleichgültig
Laiendogmatik und -ethik, als Funktion des Gemeinde- sein kann, dürfen Untersuchungen, die diesen Bereich er-
■'mfbaus, als Anleitung zur Kirchenreform, als Sozialisations- hellen, von vornherein auf besondere Aufmerksamkeit
bcgleitung, als Therapie usw.!" Mit Recht wird hinzugefügt: rechnen. Für den — evangelischen wie katholischen —
„Dahinter stehen auch Unsicherheiten über die Funktion von Religionsunterricht gilt dies um so mehr, als es über seine
Evangelium und Kirche in der gegenwärtigen und zu- Situation zumindest im deutschsprachigen Raum bisher
künftigen Gesellschaft" (S. 235). 2. In der gegenwärtigen kaum Arbeiten gab, die (erfahrungs)wissenschaftlichen An-
Sltnation könnten keine fertigen Rezepte angeboten forderungen genügten1. Es ist deshalb nur zu begrüßen, daß
werden, sondern nur Anregungen zu „geplanten und durch- jetzt der Erziehungswissenschaftler Norbert Ilavers eine
dachten Reformen". 3. Der Verfasser bekennt sich dabei zu Dissertation vorgelegt hat, in der das Problem „Religionsneuen
Formen des KU, in denen nicht die „Vermittlung von unterrieht" erstmals mit den Mitteln der empirischen
Lehre", sondern „der Jugendliche mit seinen Fragen und Sozialforschung angegangen wird.

Problemen" im Mittelpunkt stehen müsse. Ein thera- H. geht von der seit 1903 beobachteten Tatsache aus, daß
pSUtischer Unterriebt wird von ihm abgelehnt. der RU niemals zu den beliebtesten und so gut wie immer
Die Fülle der in dieser Untersuchung angeschnittenen zu den unbeliebtesten Schulfücherii gebort. Zur Erklärung
Probleme konnte nur angedeutet werden. Streckenweise dieses auffallenden Sachverhalts werden zunächst Äuße-
U*S1 sich das Werk nicht leicht. Dem Aufbau des Buches rungen von Sozialwissenschnftlern, Religionspädagogen.
würe unter Umständen mehr gedient gewesen, wenn der Vf. Rcligionglehrem und Schülern zusammengestellt. Alle diese
zunächst die unterschiedlichen Modellkonzeptionen vorge- Erklärungsversuche dienten jedoch im Rahmen der Unterteilt
hätte, um danach die Probleme des KU systematisch suchung nur als Hypothesen, die in einer umfassenden
z" erörtern. Dann wäre auch deutlich geworden, daß Re- Schülerbefragung zu verifizieren waren. Diese Befragung
Wimen des KU im Grunde nur in zwei Richtungen gesucht wurde im Mai 1970 unter 330 Schülern der zehnten Klasse
w,,rden können: 1. Durch Änderung der Organisation- an vier Mttnrhener Gymnasien durchgeführt,
formen, 2. durch Änderung von Zielstellung und Inhalt des Die mannigfaltigen Einzelcrgebnisse der Befragung lassen
KU. Dabei bleibt der Vf. in der Kritik der dargestellten einerseits durchaus eine gewisse Aufgeschlossenheit gegen-
Modclle und Theoriebildungen sehr zurückhaltend. Eni- über religiösen Fragen erkennen: 78% der etwa sechzehn-
1,1liieden zurückgewiesen werden eigentlich nur Konzeptionen, jährigen Schüler geben an, daß sie „die Frage narh der
(,,<' vorrangig emotionale Lernziele anstreben. („Wir fragen Existenz Gottes" „bewegt" (S. 135), und über G50/0 „glauben
w,'iter, ob emotionale Lernziele überhaupt ohne gleichzeitig. an Gott" (S. 98). Andererseits bestehen gegenüber der
"' ■n litung von kognitiven Aspekten erreicht werden können. Kirche als Organisation so starke Vorbehalte, daß mehr als
'"' s erscheint fraglich." S. 227.) Bei den übrigen Modellen die Hälfte der Befragten einen späteren Austritt für möglich
""d den entsprechenden Theoriebildungen überwiegt die hält (S. 108). Noch schäiTer wird schließlich der RU be-
Wi,,dergabc der Problemdiskussion. Schließlich bleibt dem urteilt: 40% möchten ihn überhaupt abgeschafft sehen, und
^*Ser die Frage offen, ob der Vf. bei allen Überlegungen noch mehr - über 60% - hallen ihren eigenen Unterriehl
"'«ht iu stark von der Situation und den Möglichkeiten einer für verlorene Zeit, so daß sie sich am liebsten von ihm ab-
y°ihlkbehe ausgeht (vgl. vor allem S. 76 ff). Es mag sein melden würden (S. 93).

''"ß in Weitdeutschland Volkskirche noch empirisch fest- Um die laletst angeführten Ergebnisse - durch die die

Hcllhar ist. Auf der anderen Seite läßt sich wohl k....... über- vorausgesetzte „Unbeliebtheit" des RU zugleich verifiziert

8,',,, n, daß Kirche sich überall zur Minderheits- und Frei- und pra/isiert wird - zu erklären, führt IL alle Einzel-

*ilhgkeitskirche entwickelt. Beformen des KU. die über- ergebnisse der Untersuchung auf neun „Faktoren" zurück

'•■"««•ii sollen, werden immer gebunden sein an die Eni- und versucht, deren Bedeutung für die Beurteilung des RU

*"klungstondcnzen, die sich im Leben einer Kirche ab- zu bestimmen. Dabei zeigt sich, daß die grundsätzliche

*c'C"nen. Ohne diese Bindung würde schon im Keim ein. Einschätzung des Fachs fast ausschließlich von der „Ein-