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Ausgabe:

1974

Spalte:

357-359

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Schilling, Heinz

Titel/Untertitel:

Niederländische Exulanten im 16. Jahrhundert 1974

Rezensent:

Blaschke, Karlheinz

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Theologische Literaturzeitung 99. Jahrgang 1971 Nr. .">

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sprunghaft apostolisch." (S. 95,) Daneben tritt endlich noch konfessionellen Verhältnisse noch im Fluß waren. Ks geht
'In Vemunft all eine gewichtige theologische Kategorie. Eher ihm nicht um die Entdeckung neuer Tatsachen, vielmehr um
• iiidi utungswcisealädurchcxakle historische Untersuchungen neue Deutungen und Erklärungen des Bekannten, um das
wird ihre zentrale Holle im Zusammenhang dieser Lehr- Zusammenwirken religiöser und gesellschaftlicher Kräfte im
struktur auf das Nachwirken neiiplatoiiisch-humanistischer l'rozeü der Ansiedlung von Exulanten, um die Probleme der
l'raditionon zurückgeführt; hier zeigt sich also offensichtlich Behauptung dissidierender Gemeinden in einer fremd-
noeh ein weites Eeld für weitere wissenschaftliche Be- konfessionellen Umwelt und um ihre Ausbreitungschancen.
niuliungen! „Interferenz" von religiösen und wirtschaftlich-sozialen
Die praktisch-theologischen Konsequenzen aus dieser Entwicklungstendenzen, von „Ideal- und Realfak loren"
Grundlegung werden im dritten Kapitel ausgezogen: das wird in einet dem soziologischen Denken verpflichteten
Verständnis von kirchlichem Amt (S. 12<i — 159), Gottesdienst Weise zum tragenden Grund der Untersuchung gemacht,
(S. 159—196) und dem Staat als dem Mitregcnten der was auch in der aus der Soziologie stammenden Begriff-
Kirche (S. 19G— 218) gewinnen auf diesem Hintergrund lichkeil immer wieder deutlich wird.

plastische Gestalt: alle diese „ürd nungen" konstituieren sieb Der Vf. bedient sieh einer „komparativen und typi-

eben nicht allein und ausschließlich von der Lehre her, sierenden Methode", indem er für sieben Zufluchtsorte

sondern existieren und agieren immer auch - und zwar (London, Hamburg, Emden, Wesel, Köln, Aachen, Frank-

wesenbafl — aus dem Ullischluß von pragmatischer Ver- furt) die individuellen Züge der jeweiligen Exulanten-

Münfligkcit und theologisch gedeuteter Geschichte heraus. Es nnsiedlungen herausarbeitet und dabei Bcwcgungstendenzen

liegt auf der Hand, daß sich eine genauere Differenzierung und Strukturen deutlich macht, die allen Orlen gemeinsam

hinsichtlich di r hier und dort wirklich treibenden und ent- sind. Es sind nur Städte mit mehr als 1000 Einwanderern

scheidenden Kräfte nur mit der allergrößten Schwierigkeit und einer mindestens 50 Jahre andauernden Exulanten»

oder überhaupt nicht mehr durchfuhren läßt. Ob hierin gemeinde ausgewählt worden.

Wirklieh noch Struktur- und Funktionsclemente der „Lehre" Die Niederländer stellten in der 2. Hälfte des 10. Jb.s in
zum Ausdruck kommen, erscheint insgesamt doch recht ihren VVirtsstädlen starke Minderheiten dar: London 3000 —
'•»glich. Viel eher, so meine ich, erweist sich in diesen 10000, Frankfurt 2000-4000, Emden 2000-5000, Wesel
Zusammenhängen die beschriebene Eingrenzung der Frage- 500—8000. Auf dem Höhepunkt ihrer jeweiligen Entstellung
des Vf.s uuf die Lehre und ihre Struktur als pro- wieklung erreichten sie Anteile an der Gesamtbevülkerung
"leinatisch, weil zu eng und einseitig „theologisch" angelegt. von 5 % in London, Köln und Hamburg, 20 % in Aachen
Das letzte Kapitel der Arbeit über den „spezifisch angli- und Frankfurt, W % in Wesel und fast 50% in Emden. Sie
««Mischen l.ehrcharakler" (S. 219— 250) geht dieses Problem kamen als engagierte, im Konfcssionskampr ihrer Heimat
dann noch einmal grundsätzlich an. Mit Hecht werden die geschulte, von Missionseifer getriebene Kalvinisten und zu-
iilheiischen Tendenzen in dieser Kirche - neben den gleich als Träger wirtschaftlicher Aktivität und wirtsehaft-
"•'Iholischen (S. 2291.) und reformierten (S. 231) — mit liehen Fortsehritts, als Inhaber weitreichender Handels-
KJoßein Nachdruck hervorgehoben. Darauf kommt es dem beziehungen und Besitzer großer Kapitalien. Namentlich
Vf. erklärtermaßen auch vor allem au (S. 250). Aber gerade auf dem Gebiet der Textilproduktion waren sie ihren
'"ifgniiid dieser sachlich so berechtigten Herausstellung, daß Wirtsländern überlegen. Neben religiösen waren für viele
W|r es in der anglikanischen Kirche mit einem mit dem Flüchtlinge auch wirtschaftliche Gründe wichtig oder sogar
'Hlhertiim „gemeinsamen bibliscb-refnrmatorischen Ansatz allein ausschlaggebend. Die wirtschaftlich aktiven und
"> dem gemeinsamen christologiseh-soteriologischcn Prinzip konfessionell dissidierenden Minderheiten erzeugten eine
'eider Kirchen" (S. 250) zu tun haben, verschärft sich doch Sprengkraft, die in der geschlossenen Sozialstruktur der
UUi noch einmal die grundsätzliche Frage, ob es unter dem frühneiizeitlichen Stadt besonders spürbar wurde. In den
"'sichtspunkl der „Lehre" — trotz aller hier überzeugend \ iilsgcsellschaften wurden daher sowohl die llauptvertreter
^'"■geführten Breite und Vielfalt dieser Dimension — im der herrschenden Konfession (Katholiken. Lutheraner) wie
«runde möglich sein kann, die realen Unterschiede auch nur auch die beharrenden, in ihrem sozialen Status durch neue
"•Wer beiden Konfcssionskirchen angemessen in den Klick zu Fertigungstechniken und neue (kapitalistische) Wirtschafts-
j^XOmnxen. Diese entscheidende historische wie euch theo- Organisation bedrohte Gruppen herausgefordert, während die
"gliche Frage jedoch aufgerissen und sie konkret zugespitzt Stadträte und die Kaufmannschaft die Exulanten als ein
z" haben ist sicher nicht das geringste Verdienst dieses die Wirtschaft der Stadl belebendes und stärkendes Element
••Wichtigen Buches. begrüßten förderten, zumindest duldeten. Im Widerstreit

||a...... . von Bekenntnistreue und wirtschaftlichen Interessen ge-

'""""i. W. Martin r.rmiliat , . , . . , „ . ,. , , ,

wannen bei den Magistraten in der Hegel die letzteren das

Übergewicht, so daß den Exulantengemeinden im Widerspruch
zur katholischen bzw. lutherischen Geistlichkeit in
(.'(■wissen GrenzeM freie Religionsausübung gewährt wurde.
Als Urheber sozialen Wandels, die das Zunftsystem dureb-

g_. .. brachen uud dem kleinem Handwerksmeister der Wirts-

" hng. Heinti Niederländische Exulanten im IG. Jahr- städte die <'.efahr eines sozialen Abstiegs vor Augen führten,

^Mildert. Ihn- Sti llung im Sozialgcfüge und im religiösen riefen die Exulanten soziale Spannungen hervor. Wo sie

I •, ,,eii deutscher und englischer Sl.idle. Cütersloh : I'.üters- auftraten, brachten sie eine fremde Konfession und zugleich

)]| '',' Vl'rl»KshauB Gerd Mohn [1972]. 200 S. 8°= Schriften ,.in f,.,.,,,,!,^ Wirtschaftssystem. Unter diesen Bedingungen

' "'s Vereins für Befonnatioiisgeschichte, 187, Jg. 78 u. 79. ergaben sieh in den sieben untersuchten Städten verschiedene

"M 32,- . Auswirkungen, die in sehr übersichtlicher Weise zunächst im

. von der Kirehengeschichte seit jeher stark beachteten Klick auf das wirtschaftlich-soziale Verhältnis von Ein-

"genottlichen Rcfiigics des 17. Jahrhunderts sind zwar zu heimischen und Zugewanderten, sodann in bezug auf die

^''""«iisenden aufgetreten, haben aber in einer konfessionell Stellung der niederländischen Reformierten im religiösen

►.•"«•tigten Welt keine Bewegung mehr verursachen können. Leben der Wirtsstädte untersucht werden. Kirchen- und

''"'«"genüber betont Seh. das höhere kirehen- und sozial- thcologiegeschicbtlich ist dabei der unterschiedliche Verlauf

'"' lillichc Interesse an den niederländischen Exulanten der konfessionellen Auseinandersetzung der Kalvinisten mit

■|'N Jahrhundert! die /war nur nach Hunderten und einem kämpferisch gegenreformatorischen Klerus (Köln),

"'s''"dcM xählten aber in einer Zeil auftraten, da das mit lutherischer Orthodoxie (Hamburg, Frankfurt) und der

i„'"u W,rtMnaftf. und Sn/ialgefüge ihrer Wirtsländer noch lediglich politischen Konformismus fordernden angbka-

' U;'"del vom Mittelalter zur Neuzeil begriffen und die nischen Staatskirche (London) von hohem Interesse. In