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Ausgabe:

1974

Spalte:

356-357

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Keller-Hüschemenger, Max

Titel/Untertitel:

Die Lehre der Kirche im frühreformatorischen Anglikanismus 1974

Rezensent:

Greschat, Martin

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oder theologisches Prinzip oder Axiom abzulehnen. S. 168ff
wird im Rahmen einer Zusammenfassung der Abschnitt
überschrieben: „Die Unabhängigkeit der wahren Theologie
von der Philosophie und ihren Methoden'". Die wohl wichtigste
Folgerung besagt, daß die Rechtfertigungslehre nicht
selbständiges Prinzip sei, sondern Folge des Gottesver-
hfiltnisses (175ff). Wir begegnen schroffen Formulierungen.
Die ganze Theologie Luthers würde verzeichnet, ,.wo i'inr
. ISe i htfcrtigungslehre' oder auch eine ,Theologie der Rechtfertigung
' bei Luther ... entworfen wird. Damit wird das
Sekundäre ... zum Primären und zu einer selbständigen
Große gemacht". Man solle sieh dann nicht darüber wundern,
daß solche Theologie ..keinerlei glaubensmäßige oder
praktischen Folgen im Leben des einzelnen evangelischen
Christen oder der evangelischen Kirche mehr hervorruft"
(287). Im Zusammenhang werden Fr. Loofs, 0. H. Pesch,
E. Wolf als Fehlinterpreten Luthers genannt, und ihnen
wird bald danach Gerhard Ebeling zugesellt (289, 366).
Schon Melanchthon, seine Schüler und Mitkämpfer hfitten
Luthers grundlegende Gotteserfahrung hinter die zu einem
selbständigen Prinzip erhobene Rechtfertigungslehre zurückgedrängt
nnd damit Luther an Erasmus ausgeliefert. Kohls
Polemik richtet sich auch gegen Paul Althaus, der sieh wohl
schon dadurch verriete, daß er jede Auseinandersetzung mit
Erasmus unterlassen hätte. „Der Name ,Erasmus' kommt in
seiner Untersuchung" — der Darstellung der Theologie
Luthers — „niemals vor" (368). „Bei P. Althaus wird die
Theologia crucis zu einer selbständigen theologischen
Theorie, die sie weder bei Paulus noch bei Luther ist" (367).
Ebeling wird vorgeworfen, „sämtliche Grundlagen und
Inhalte der Theologie Luthers übergangen" zu haben: der
Glaube als gottgewirktes Geschenk sei ..ganz in eine immanente
, verdünnt idealistische Anthropologie der ,Mit-
mensehlichkeit' verkehrt worden" (366). Summa summarum:
Im Luthertum hätte schließlich Erasmus triumphiert (so
schon S. 3).

Wir fragen besorgt, ob Kohls' Angriffsgeist bestehen
bleiben kann. Der Untertitel seines Buches lautet: „Luthers
Theologie in der Auseinandersetzung mit Erasmus". Auch
sonst redet Kohls nicht selten von der Theologie Luthers,
wobei er keine Anführungszeichen setzt, was er durchweg bei
der „Theologie" der Angegriffenen tut. Es wird also auch
nach Kohls eine Theologie Luthers geben, und vielleicht
wird sie der noch ausstehende zweite Band enthalten. Im
ersten Hand geht es um sie nicht, wenn man Kohls beim
Wort nimmt. sondern um die < tffenbarung der Gnade Gottei
in Christus, die der Sünder in der Begegnung mit der selbsttätigen
Schrift empfängt. Kohls spricht hier mit Recht von
der Voraussetzung der Theologie. Kann er wirklieh meinen,
daß die polemisch Angesprochenen das nicht wüßten und daß
auch ihre „Theologie Luthers" der Gottesoffenbarung nachgeordnet
sein will! In welche Nähe der einzelne Forscher zu
Erasmus gerät, dürfte eine wichtige, aber nicht die Frage
aller Fragen sein.

Es sei noch eine formale Eigenart des Buches erwähnt: die
langen und sich gelegentlich wortlich wiederholenden Zitate.
So wird Luthers Auslegung des ersten Artikels in „Eine
kurze Form der zehn Gebote..." auf S. 145 und 158 im
Wortlaut angeführt, an der zweiten Stelle allerdings in noch
größerem Umfang. Luthers Entgegnung auf die Offenbarungstheorie
des Erasmus in „De servo arbitrio" —
Stichwort ,, Korykische Höhle" — wird im wörtlichen Zitat
und beidemale im Umfang von ein und einer halben Druckseite
sowohl S. 45f wie S. 163f wiedergegeben. Das mag in
der Vorlesung guten Grund haben; im wissenschaftlichen
Buch genügt immer der Verweis.

Aus Andeutungen des Vf.s wird man schließen dürfen,
daß er die Unterwanderung iler Theologie Melanchthons.
Hurers u. a. durch die Theologie des Erasmus behandeln
wird. Das ist Recht und Pflicht des Historikers. Kineo neuen
Abschnitt der Lulherforse hung dürfte Kohls nicht eingeleitet
haben. Doch darüber wird abschließend erst nach

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Erscheinen des zweiten Bandes zu urteilen sein. Ks macht
starken Eindruck, einen Lutherforscher von der Macht der
biblischen Golteserfahrung überwältigt zu sehen. Weiter
bleibt immer nötig, die dienende und der Offenbarung immer
nachgeordnete Aufgabe jeder 'Theologie zu unterstreichen.
Ebenso berechtigt ist endlich die Klage und Anklage, daß
aus der 'Theologie so wenig lebendige Frömmigkeit aufgeblüht
ist. Aber das sollte auch niemand von der Theologie
erwarten, sondern allein von der Begegnung mit dem

lebendigen Gott, in der Propheten — verstummten.

Rostock Gottfried HolU

Keller-Hüschemenger, Max: Die Lehre der Kirche im frflh-
rcforinatorischen Aiiglikanisiuus. Struktur und Funktion.
Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus Gerd Mohn [1972].
270 S. gr. 8°. Lw. DM 48,-.

Die vorliegende Untersuchung geht von der Einsicht aus,
daß Auseinandersetzungen um Lchrfragen und die Bereinigung
von Lehrdifferenzen offensichtlich nicht genügen,
um mit dem Problein der kirchlichen Einheit voranzukommen
; daraus resultiert für den Vf. die Frage, „ob bzw.
in welc hem Umfang und mit welchem Gewicht neben der
Lehre als ekklesiologisches Slrukturprinzip auch andere

Struktur- und Funktionselemente der bei den Gesprächen

beteiligten Kirchen forderen Wesen, Leb......nd Funktio.....<

konstitutiv sind" (S. 9). Dieser Ansatz weckt hohe Erwartungen
— die' freilieh alsbald reduziert werden. Niehl um

die Einbeziehung außertheologischer, etwa allgemeiner
soziologischer oder religionssoziologischer Fragestelinngen,
geht es dein Verfasser, sondern darum, inwieweit kirchliche
Lehrinhalte über die Funktion des docere hinaus ekklesio-
logisch wirksam, mehr noch: für das Selbst Verständnis und
die Wirklichkeil einer Kirche konstitutiv sein können. 1. B,
W.: hier geht es nach wie vor entscheidend um die Prävalenz
der Lehre als dem wesenhaften Charakteristikum von Kirche
— nur daß der traditionelle liegriffvon Lehre als Lebrinhalt
jetzt im funktionalen Sinn erweitert werden soll; in diesem
Sinne ist wieder und wieder von der „Lehre als Funktions-
element und -prinzip" die Rede (S. 10. u. ö.)

Als besonders instruktives Modell zur Verdeutlichung
dieser These wurde die anglikanische Kkklesiologie der
Heformationszcit gewählt. Gründlich, klar und durchsichtig
— wobei intensive Kenntnis und die ausführliche
lienutzung eh r englischen Quellen wie auch dieser Sekundärliteratur
zum 'Thema besonders hervorzuheben ist — entfaltet
der Vf. innerhalb des so umrissenen Kähmens seine
'These. Ein knapper Überblick über die Quellen (S. 15 — 36)
zeigt die Entstehung und die gegenwärtige; theologische
Relevanz vor allem des Book of Common Prayer wie auch
der 39 Artikel auf. Die beiden folgenden Kapitel über
„Funktion und Struktur der Lehre" (S. 37— 121) sowie über
„Lehre und Ordnung der Kirche" (S. 122 — 218) stellen dann
das Zentrum des Buches dar. Eindrücklich wird zunächst die
schon für die anglikanische Kirche der Mcformationszeit charakteristische
Intcrdcpendenz von Scbrifthez.ug, theologischem
Geschichtsverständnis und rationaler Argumentation herausgearbeitet
. Nicht ein biblisc h-nomistisches sondern ein
soteriologisch-christozentrisclies Schriftversläudnis dominiert
; aber diese P.ibelinterprelation ist von Anfang an
verwoben mit e iner eigenartigen Deutung von Geschichte,
wonach insbesondere die l rkirche einen solchen Reichtum
unausgesc höpfler und unausschnpfharer Möglichkeilen in
sie h birgt, der jeder e inlinige n Lehra us'leul ung von vornherein
widerstrebt. Auslegung der Scdirift und Auslegung
dieses Anfangs ergänzen und knmplel I ieren sieh somit. „So
gibt es keine zeitliche Aufeinanderfolge und Abgrenzung von
.Schrift' und .Tradition'; sondern .Schrift' und ,'Tradition',
oder anders ausgedrüc kt l in und durch die Sc hrift sowie in
und durch die Tradition auf uns gekommene apostolisch-
katholische Lehre sind beide historisch-zeitlich gleich Bf*

Theologische Literaturzeitung 99. Jahrgang 197/i Nr. 5