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Ausgabe:

1974

Spalte:

284-285

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Finkenzeller, Josef

Titel/Untertitel:

Glaube ohne Dogma? 1974

Rezensent:

Rogge, Joachim

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283

Theologische Literaturzeitung 99. Jahrgang 1974 Nr. 4

284

sich allerdings fast ausschließlich auf Repräsentanten idealistischer
Denkweise bezieht. Drei zentrale Motive für die
Verneinung Gottes sieht er sich abzeichnen: ein theologisches
, ein kosmologisches und ein anthropologisches Interesse
(S. 29). Als Kronzeugen gelten ihm Goethe, Dostojewski
und Nietzsche, wobei deren Spitzensätze jeweils
in den Zusammenhang der Denk- und Frömmigkeitsgeschichte
gestellt werden. So ist für das theologische
Motiv der von Goethe angeführte Spruch „nihil contra Dcum
nisi Deus ipse" (S. 23f, 29ff) repräsentativ: das Bewußtsein
einer absoluten Wirklichkeit, die jeden Begriff sprengt,
und die sich auch in der Offenbarung ihrer selbst gegen den
Partner wendet, so daß der Denker, wenn er der Übermacht
nicht erliegen will, gerade dann, wenn er sie erkennt, sich
in ein „Non est Deus" retten muß (S. 40f) und auch der Prophet
den Offenbarer als Verführer anklagt (S. 41 f). Die Erörterung
des kosmologischen Motivs knüpft an die
Absage an „eine Welt, deren Glanz sich auf das Leiden Unschuldiger
begründet" an, die Dostojewski seinem Iwan
Karamasow in den Mund legt: Das Aufbegehren gegen
eine Schöpfung, die das Bedürfnis nach Humanität, nach
Gerechtigkeit und Güte nicht erfüllt, führt zur Theodizec-
Frage und zur Rebellion gegen den Schöpfer (S. 25-27; 42ff).
Die Kontingenz der Welt wird so zum religiösen Ärgernis
und zwingt zur „Absage an Gott mit dem Ziel, dadurch
die Welt für den Menschen zu retten" (S. 55). Das
anthropologische Motiv endlich spricht sich bewegend
in Nietzsches Klage und Anklage aus: „Unnennbarer!
Verhüllter! Entsetzlicher! / Du Jäger hinter Wolken!/Darniedergeblitzt
vor dir, / du höhnisch Auge . . ." Gott erscheint
hier nach der Formulierung des Vf.s „als totale M e -
diatisierungdesMenschen" (S. 28f, 55ff). Es geht
dabei um „die Befürchtung, durch Gottes ansehenden Blick
um die innere Freiheit, ... um die Naivität gebracht", seiner
Unmittelbarkeit im Verhältnis zu sich selbst beraubt zu werden
(S. 57f). Zusammenfassend urteilt der Vf. über die Beziehung
der drei Motive zueinander, daß „eine Steigerung
. . . vor allem in dem Sinn" vorliege, daß das den atheistischen
Protest provozierende Motiv immer stärker an das
menschliche „Personzentrum" heranrücke: „Das Erschrek-
ken vor der göttlichen Absolutheit verschärfte sich zur Revolte
gegen die unannehmbare' Welt und diese zur Rache
an dem als unerträglich empfundenen Zeugen" (S. 63). Wohl
nicht den Atheismus überhaupt, doch aber die von ihm ins
Auge gefaßten Formen der Absage an Gott kann der Vf.
daher als „Kritik des Gottesverhältnisses" (im
Gegensatz zu einer Leugnung der Existenz Gottes) auffassen
. Damit wird aber das eminente Interesse gerechtfertigt,
das eine sich als „Glaubenswissenschaft" verstehende Theologie
an den Motiven der Gottesleugnung nehmen muß: „In
der Unversöhnlichkeit des Gegensatzes zeigt sich damit eine
überraschende Affinität" (S. 64).

Damit ist der Weg geöffnet, um im zweiten Hauptteil der
Untersuchung („Theologie und Atheismus", S. 65 -90) eine
„theologische Aporctik" positiv zu entfalten. Vf. geht davon
aus, daß „den theologischen Beweggründen des Atheismus
eine gleiche Anzahl atheistischer Implikationen
der Theologie entspricht" (S. 67). Tatsächlich erweisen
sich Absolutheit, Kontingenz und Vermittlung nicht
nur als Motivationen, in denen atheistisches Denken an
theologisches angrenzt, sondern zugleich als drei A p o r i e n
des theologisch-systematischen Denkens selbst. Der Absolut-
heitsgedanke führt - z. B. im System Hegels - letztlich zu
einer doppelten Verneinung: „Einmal der Welt"; sie sei „als
die Welt des nur durch sie zu seiner Göttlichkeit gelangenden
Gottes" dann ja „lediglich seine Sclbstdarstellung"; „sodann
aber auch Gottes"; denn „der Gott, der ohne die Welt
nicht Gott sein kann, ist in der Tat der in die Welt hinein
aufgehobene" (S. 73). Damit aber sei gegeben, daß „der
christliche Glaube, so lebendig er in das hegelschc System
eingegangen war, zuletzt doch den schrecklichsten Tod

- den Systemtod - stirbt" (S. 73f). Die Aporie des Kontin-
genzgedankens liegt in der Frage begründet, in welcher
Weise das welthaft Seiende von Gott her zu denken wäre.
Die theologische Tradition sehe in der Schöpfung „das
kreatürliche Abbild Gottes". Aber „in der als
Abbild des unveränderlichen Gottes begriffenen Welt war
grundsätzlich kein Raum für spontane Umschichtungen und
geschichtliche Prozesse" (S. 75). Daraus ergab sich auch das
Unvermögen, „den Menschen der nach biblischer Sicht ihm
zuerschaffenen Welt in einem mehr als nur ornamentalen
Sinn zuzuordnen" (S. 77). Eine solche Schöpfungsichre sei
aber, „auf die Gotteslchre bezogen, eine einzige Tautolo-
g i e"; der darauf begründete „theologische Weltbegriff"
streife „den Abgrund . . . des Akosmismus" (S. 78). In ähnlicher
Weise führt die Aporic der Vermittlung auf die „Gefahr
des Apersonalismus" (S. 83), d. h. im Sinne des
Vf.s „eine Konzeption des Menschseins, die seine Selbstzugehörigkeit
durch eine allzu enge Annäherung an die göttliche
Herrlichkeit überblendet" (a.a.O.).

Den Abschluß der Arbeit bildet der Hinweis des Vf.5 auf
den „Ausweg des Wortes" (S. 85 - 90): „Eine Theologie, die
sich konsequent auf das Wort begründet, hat. . . die Apo-
rien der reinen Spekulation bereits hinter sich" (S. 88f) -
wobei „Wort" sowohl als das „rein menschliche" in seiner
Dynamik der „dreifachen Hinkchr" „zum Andern,
zur Welt und zum Du" (S. 87f) wie auch besonders als das
„Wort der Offenbarung" (S. 85) gesehen sein will.
So führt die theologische Aporctik zu einer Selbstbesinnung
der Theologie auf die Quelle ihrer Erkenntnis, die zugleich
Befreiung vom Zwang spekulativer Systematik bedeutet. Es
muß nicht betont werden, wie nah der römisch-katholische
Theologe hier Erkenntnissen kommt, an deren
tragende Kraft sich die evangelische Theologie nicht nachdrücklich
genug erinnern lassen kann.

Leipzig/Holle Norbert Müller

Finkenzeller, Josef: Glaube ohne Dogma? Dogma, Dogmenentwicklung
und kirchliches Lehramt. Düsseldorf: Pat-
mos [1972]. 94 S. 8° - Patmos-Papcrback. Schriften der
Katholischen Akademie in Bayern, hrsg. v. F. Henrich.
DM 9,80.

Finkenzellers Buch ist ein Diskussionsbeitrag zu einem
Thema, das nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil viel
erörtert und fortgesetzt präzisiert worden ist. Der Vf. gibt
wieder, was Gegenstand von Akademietagungen und theologischen
Fortbildungskursen gewesen ist. Es geht um die
Grundlagen von Glaube, Lehre und Verkündigung der Kirche
und insofern um Begriff und Stellenwert des Dogmas.
Es ist offensichtlich, daß der Vf. hier nicht nur ein akademisches
Interesse trifft, sondern auf weiteste Beachtung rechnen
darf, wenn er die Frage nach den Lehrformeln im Spannungsfeld
ihrer Gefährdung als Lcerformeln und ihrer (un-)
übcrholbaren Ausformulierung im Horizont bleibender
Wahrheiten stellt. Die Probleme beginnen bereits dort, wo
der Terminus „Dogma" (im Singular!) hin zum Phänomen
der „Dogmenentwicklung" geöffnet wird. Da jeder, der hier
einschlägig arbeitet, schon nach kurzer Analyse im Rahmen
der Ekklcsiologie auf die Rolle des .kirchlichen Lehramtes'
stößt, ist es von großem Gewinn, daß Finkenzeller sich denn
auch konsequent der bezeichneten Begriffstrias zuwendet.

Ein erster Abschnitt enthält das Referat des traditionellen
Verständnisses von Dogma und Dogmenentwicklung in
heutiger Sicht. Der Vf. nimmt gleich zu Anfang die diesbezügliche
Fragekette von H. Küng, aber auch von K. Rahncr
auf. Ist durch die Einräumung „der Unzulänglichkeit, Fragwürdigkeit
und damit auch . . . der Irrtumsfähigkeit" (S. 10)
von Dogmen nicht der Boden für verbindliche Lehrsätze der
Kirche entzogen? Zur Antwortsuche für diese Frage wendet
sich Finkenzeller zunächst einer Wesensbestimmung des