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Ausgabe:

1974

Spalte:

228-229

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Steck, Karl Gerhard

Titel/Untertitel:

Karl Barth und die Neuzeit 1974

Rezensent:

Langer, Jens

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Theologische Literaturzeitung 9!). Jahrgang 1974 Nr. 3

228

durch die jeweils Zusammengehörendes klassifizierend auseinandergerissen
werde (vgl. bes. S. 4()7f., Anm. 5), zugunsten
einer „galilcischen" Offenheit für empirische
Wirklichkeilsanalyse. Die Situation des Vf.s ist gekennzeichnet
durch die Wertvorstellungen bürgerlich-liberaler
Demokratie in einer kapitalistischen Gesellschaftsordnung;
die Fragestellungen des Sozialismus bleiben außer Betracht.
Die doppelte Beschränkung, der sich der VI. unterworfen hat,
tritt vielleicht am augenfälligsten durch die Intransigenz in
Erscheinung, mit der er die Sozialwissenschaft als
Gesprächspartner der Theologie jeder Sozialphilosophie
vorzieht. Die empirische So/iulwissenschaft im Sinne
Lewins, an der er sich orientiert, ist jedoch auf Grund ihres
„feldtheoretischen Ansatzes" (vgl. S. 40) in erster Linie
Sozialpsychologie, speziell Verhaltenspsychologie, nicht
aber Gesellschaftskritik. Wenn man diesen Ansatz als vorgegeben
hinnimmt, wird man die Fülle von wertvollen Anregungen
zu würdigen in der Lage sein, die der Vf. im ersten
Teil für die speziellen Aufgaben der Gemeindeleitung,
Gesprächsführung und Seelsorge, im zweiten Teil für ein
nicht hierarchisch und institutionell, sondern auf Situation
und Funktion orientiertes ekklesiologisches Denken vermittelt
. Man wird sich seinem Bekenntnis zu Jesus als dem
„in seiner Gemeinde gegenwärtigen Herrn" (S. 344,
Sperrung durch den Rez.) im Gegensatz zu einseitiger
Betonung der historischen Vergangenheit, oder der i m ha
tologischen Zukunft gern ansehließen, seinen Versuch einer
Rezeption des Offenbarungsbegriffs in den Kontext
„empirischer Theologie" dankbar zur Kenntnis nehmen
(„ein Ereignis, . . . das die Selbstverschlossenheit menschlicher
Wirklichkeit von ,außen' aufbricht", S. 343). Die
Wechselbeziehung von Glaube und Kirche („Wo der Glaube
ist, da ist die Kirche", S. 376) als ein entscheidender Aspekt
reformatorischer Ekklesiologic (wenn auch nicht der einzige)
ist vom Vf. ebenso legitim betont, wie die Erkenntnis, daß
„die Geschichte Gottes mit den Menschen, auf die sich die
theologische Theorie bezieht, ... in den Zusammenhängen
der Situation . . . komplex und vieldeutig vermittelt" ist
(S. 398) und daß der „Gcmcindeprozeß" als ,,Situation
vor Gott" verstanden werden kann (S. 388).

Allerdings wird bei all dieser Zustimmung doch auch nicht
verschwiegen werden können, daß sich überall dort erhebliche
Bedenken anmelden lassen, wo der Gruppcnuspek t
zu einseitig die Sicht zu beherrschen scheint. Das ist einmal
dort der Fall, wo man sich der Frage zu stellen hätte, ob
und inwiefern die Kirche mehr sein könnte als eine sich
spontan dem Anspruch der Situation öffnende Gemeinschaft;
so wird in einer kurzen Erörterung über die „signa ec-
clesiae" Luthers der Reformator (im Sinne des Lewinschen
Antiaristotelismus) nominalistisch gedeutet; es wird übersehen
, daß für Luther das sakramentale „est" grundlegend
wichtig war (S. 377). Zum anderen wird zu wenig konkret
nach der gesellschaftlichen Verantwortung der Kirche gefragt
; wo das Problem (unter Kritik an Luthers Zwei-
Reiche-Lehre) anvisiert ist (S. 377f.), wird nur sehr allgemein
von „geschichtlich-sozialer Wirklichkeit" gesprochen, ohne
daß deutlich wird, daß es die Kirche mit ganz bestimmten
und verschiedenen Gesellschaftssystemen und ihren Gesetzen
zu tun hat, die jeweils neue Herausforderung für eine
christliche Sozialethik bedeuten. Die Gefahr einer Isolierung
von der gesellschaftlichen Wirklichkeit, die der Vf. gerade
abwenden möchte, scheint hier nicht vermieden, weil die
Gesprächsbereitschaft überall dort ihr Ende zu finden
scheint, wo der Vf. „Aristotelismus" vermutet. In der undialektischen
Scheidung zwischen „aristotelischer" und
„galileischer" Denkstruktur scheint der Vf. selbst einer
„Dichotomie" verfallen zu sein, die seine so verheißungsvolle
Wirklichkeitsoffenheit an entscheidender Stelle einschränkt
.

Leipzig/Halle Norbert Malier

Steck, Karl Gerhard, <>■ Dieter ScheUongi Karl Barth und die
Neuzeit. München: Kaiser [1973j. 102 S. 8° = Theologische
Existenz heute, hrsg. v. Trutz Rendlorff und K. G. Steck,
173. DM 9,80.

Zwei weitverzweigte Probleme in einem schmalen Band.
Die Neuzeit darf im Augenblick gerade noch mit mehr [nte
resse rechnen als Karl Barth. Um so gewinnbringender, wenn
ein Thema, mit dem man sich forsch und up lo date gebärden
kann, gebrochen wird im Prisma eines klassisch gewor
denen, für viele schon nicht mehr ganz gegenwärtigen theoin
gischen Ansatzes. Daß sich dabei auch die Barl hsche Theolo
gic bricht im Prisma des Themas „Neuzeit", verdoppelt d>l
Interesse an dem vorzustellenden Band.

Steck beschreibt „Kurl Barths Absage an die Neuzeit"
(S.7 —33). Er vertritt die Auffassung, Barths Absage sei
immer nur vorläufig und nie endgültig gewesen, zugleich aber
doch auch stets so tiefgreifend, daß nichts Neuzeitliches
kanonisiert wurde. „Fortschritt, Besserung, ist in der
Theologie nie von der Unterwürfigkeit gegenüber den jeweiligen
Zeitgeistern, sondern — in heiterer Aufgeschlossen
heit auch ihnen gegenüber! — immer nur von einer erhöhten
Entschlossenheit zu einem ihrem eigenen Gesetz folgenden
Erkennen zu erwarten" (Karl Barth, Einführung in die
Evangelische Theologie, 1962, S. 102 = S. 95f der DDR-
Ausgabe, zitiert auf S. 31).

Schellongs Beitrag heißt „Karl Barth als Theologe der
Neuzeit" (S. 34—102). Aus einer Sicht der Neuzeit heraus, die
deren immanente Spannungen einschließt, wird einsichtig zu
machen gesucht, daß Barths Kritik selber neuzeitliche
Aspekte in sich birgt, „ja sogar einer de/.idiert neuzeitlichen
Theologie den Weg bereiten will" (S. 36).

Als Bezugspunkt für die Theologie der Neuzeit nimmt.
Schellong den Kapitalismus, in welchem das neuzeitliche
Prinzip der Rationalität als Prinzip der individuellen Selbst
erhaltung und Machtvennchrung angewendet und ökonomische
Wirklichkeit in schrecklicher Ambivalenz wird.
M. E. gelingt es Schellong, in diesem Rahmen Barths
Bemühen um eine unbürgerliche Theologie zu veranschaulichen
. Der Bourgeois in Kirche und Theologie, der
Ober die arge Welt wehklagt und auf der Suche nach „Oasen
de» ,Echten"' (S. 78) statt nach dem wirklieben Ganzen sieb
doch /wischen Sein und Zeit profitable I Iii tlen oder — falls das
nicht mehr möglich ist — wenigstens komfortable errichtet,
ist das Ziel von Barths Attacken, weil ein Bolcher Gegner
das Evangelium domestiziert. Was diese Stoßrichtung seiner
Theologie betrifft, ist Barth tatsächlich ein Theologe der
Neuzeit. Die Aufnahme der Prinzipien des Immaiientismus
und des Universalismus gerade in ihrer kritischen Verarbeitung
unterstreicht das. In diesem ökonomisch-philosophisch
-theologischen Bezugssystem wird sich der Leier
wieder einmal der überragenden Position der Barthsehen
(Jiristologie bewußt .

Die Theologiegeschichte ist nicht das Jüngste Gericht. Das
mußte Barth erfahren, und — sich das auszumalen, benötigt
man weniger Phantasie als Lektüre der Theologiegeschichte -
das erfahren die, die achtlos an diesem großen Entwurf
unseres Jahrhunderts vorübergehen. Nicht die Pose des
Richters macht in der Theologie die in allen Entwicklungen
gültige Struktur sichtbar, sondern das Gespräch von
Theologen untereinander. Steck und Schellong sind durch
ihre Untersuchungen in das weiterführende Gesprach mit
Barth eingetreten. Die dabei vollzogene Abgrenzung von
jeder Barth-Orthodoxie kann nicht umgangen werden (vgl.
S. 35, S. 102; zu ergänzen wäre, wo es notwendig ist: W.
Trillhaus, K. Barth in Göttingcn, in: I). Bössler, <i. Voigt,
F. Wintzer, Fides et communicatio. Martin Doernc zum
70. Geburtstag, 1970, S. 372). Etwa Barths Formel „Die
Theologie ist eine Funktion der Kirche" scheint nach
Kenntnisnahme besonders der Schellongschcn Untersuchung
nicht mehr bloß im Kontrast stehen zu müssen zu üuumottCH
Transformation derselben: „Die Theologie ist eine Funktion