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Ausgabe:

1973

Spalte:

938-939

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Rad, Gerhard von

Titel/Untertitel:

Predigten 1973

Rezensent:

Winter, Friedrich

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Theologische Literaturzeitung 98. Jahrgang 1973 Nr. 12

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solchen Richtpunkten, daß das Verhalten des Christen im
Alltag als ein rechter Gottesdienst Maßstäbe für die liturgisch
geordnete Feier setzt. Die Aufklärung maß der Feier
bzw. dem „äußeren" oder „öffentlichen" Gottesdienst keinen
Glaubens- oder Lebenswert in sich selber zu: »öffentliche
Gottesdienste sollten die richtige Gotteserkennnis beim
Menschen fördern, damit dadurch schließlich die wahre
.Moralität' bei den Menschen herangebildet werden könne"
(83). So hat der Gottesdienst den Charakter von etwas Vorläufigem
, das sich dann überhaupt erübrigt, wenn der Entwicklungsprozeß
der Menschheit zu seiner letzten Höh?
gelangt ist. Diesem Entwicklungsprozeß nachzuhelfen war
der Pädagogisicrung des Christentums als Aufgabe zugedacht
. Der Liturg und Prediger stand als „Volkslehrer" einer
Gemeinde als seinem „Publikum" im Sinne eines vom Staat
beauftragten Erziehers gegenüber (133 ff.), ein Amtsverständnis
, das im Predigtamt ein weltliches Amt erkennen
mußte. Die Überlegung, „ob das Bedürfnis nach Unterricht
nicht besser auf anderen Wegen als im Gottesdienst, etwa
durch den Ausbau der Schulen, erreicht werden könne"
(117), war nur konsequent und zeigt sehr deutlich die
Grenzen des aufklärerischen Gottesdienstverständnisses.

Dem Oberbegriff der Zweckmäßigkeit entsprechend stellt
Vf. im IIL Teil eine aus der Aufklärungsliteratur erhobene
Reihe von Gesichtspunkten für die zweckmäßige sprachliche
und formale Gestaltung der öffentlichen Gottesdienste zusammen
. Sachgemäßheit der Gottesdienstsprache, Verständlichkeit
, Erbaulichkeit, Volkstümlichkeit und Offenheit der
liturgischen Gestaltung waren die entscheidenden Momente.
In diesem Teil, das darf dem Vf. attestiert werden, findet
sich in der Tat manches, was von Paul Graff noch nicht
berichtet worden und daher weithin unbekannt geblieben
ist. Dazu gehören vor allem Beobachtungen über die Rolle
der Liturgiesprache, die „nicht nur im Dienste der allgemeinen
Verständlichkeit der sachlichen Aussagen, sondern
unmittelbar im Dienste der Sittlichkeit der Menschen" stand
(159), wie sie überhaupt, „dem jeweiligen Bildungszweck
nutzbar", als ein „unentbehrliches Erziehungsmittel" beurteilt
wurde (163 f.). Dabei ist zu bedenken, daß die
deutsche Sprache erst jetzt das Lateinische endgültig verdrängte
und sich auch als Gelehrtensprachc durchsetzte.

Weil der Liturgiesprachc, die dem Verstehen des Gottesdienstes
dient und das Vernünftige erläutert, im Blick auf
den „Endzweck" des Gottesdienstes größte Bedeutung zukommt
, darum richteten die Aufklärungsüturgiker ihre
besondere Aufmerksamkeit auf die liturgischen Formulare
mit ihrer schriftlich fixierten Sprachgestalt des Gottesdienstes
. Was Vf. darüber zu berichten weiß (236 ff.), das
kann noch immer Aufmerksamkeit beanspruchen, weil gerade
die Auseinandersetzungen über die Agenden bis heute
an Aktualität nichts eingebüßt haben.

Daraus läßt sich nun zugleich ein Fazit der gesamten
Arbeit ablesen: Es geht dem Vf. offensichtlich primär nicht
um die Rekapitulation und die kritische Würdigung eines
besonders umstrittenen Kapitels der Liturgiegeschichte,
sondern um den Aktualitätsbezug der einstigen Probleme.
Die einleitend durchgeführte Bestimmung des „geistigen
Klimas", in dem jene Auseinandersetzungen stattfanden,
führt am Schluß zur Wiederholung der Forderung der Aufklärer
, „daß nicht nur der Geist der Theologie einer
bestimmten Zeit, sondern dieser Zeit überhaupt,
sich in den liturgischen Gebeten und Formularen niederschlagen
muß" (298). Vf. meint, daß diese Forderung die
Aktualität der späten deutschen Aufklärung heute zunehmend
verschärft: „Das bedeutet aber, daß in einer Liturgie
Veränderungen der politischen Verhältnisse, des Lebensgefühls
, des täglichen Umgangs von Menschen bestimmter
sozialer Gruppierungen untereinander sofort formale und
sprachliche Konsequenzen haben müssen", wenn anders
Gottesdienste einen „gesellschaftstherapeutischen Dienst* zu

erfüllen in der Lage sein können, was sie nach Meinung
des Vf.s vorrangig auch sollten.

So treten nicht nur die im Titel angekündigten Gottesdiensttheorien
der späten deutschen Aufklärung bei der
Lektüre dieses Buches ins Blickfeld, sondern dazu die gewiß
erstaunlichen Parallelen, die zwischen der späten deutschen
Aufklärung von einst und der gegenwärtig wieder erwachten
Aufklärung von heute festzustellen sind. Sie werden
hinsichtlich der abwertenden Beurteilung des überkommenen
christlichen Gottesdienstes, der Entchristlichung des
öffentlichen Lebens und der Versuche einer Versöhnung
von Christentum und Kultur von einst für heute vorgestellt.

Erlangen Bernhard Klaus

Rad, Gerhard von: Predigten, hrsg. v. Ursula v. Rad. München
: Kaiser [1972]. 167 S. 8°. Lw. DM 18,50.

Eines der letzten Worte aus der letzten Predigt 1970
läßt ahnen, wo die Stärke der Predigten liegt. „Unser Predigttext
hat uns heute zur Abwechslung einmal nicht zum
christlichen Handeln aufgefordert, sondern nur dazu, daß
wir ganz ruhig etwas Gutes, Heilendes an uns geschehen
lassen. Auch dann wären wir angespannt beschäftigt. Wir
würden die Augen dann ein wenig mehr aufmachen und die
bleierne Langeweile, die auf vielen liegt, würde abfallen.
Denn die Wirklichkeit unseres Lebens ist abgründig geheimnisvoll
, und nie genug erkannte Segenskräfte tragen
uns" (S. 167). Liest man Predigten unserer Tage, finden
sich derartige Äußerungen selten. Um so nötiger sind sie.
Darum kann man der Herausgeberin nur dankbar sein, daß
sie dreiundzwanzig Predigten ihres Vaters veröffentlicht
hat, die in Jena, Göttingen, überwiegend aber in Heidelberg
, während eines Zeitraumes von fast dreißig Jahren
gehalten wurden.

Achtzehn Predigten liegen Texte aus dem Alten Testament
zugrunde, fünf behandeln Texte aus dem Neuen
Testament; unter ihnen solche, in denen alttestamentlichc
Schriftstellen verarbeitet wurden (z. B. Hebr 4; 20,1 ff.). Es
wird nicht nur evangelisch tief und befreiend, sondern
auch textnahe ausgelegt. Oft fällt auf ,wie die einzelnen
Textabschnittc und Verse recht unterschiedlich breit expliziert
und appliziert werden. Man merkt den „Umgang mit
den biblischen Texten, die immer klarer hervortretende
Kapitulation vor ihrer Größe ... Besonders in den späteren
Jahren hat ihn das Predigen fast regelmäßig an die
Grenze seiner physischen Kräfte gebracht" (Vorwort, S. 8 f.).
Viele Stellen der Schrift, die zur Erläuterung herangezogen
werden, zeugen von der Weite der Bibelkenntnis. Daß der
Vf. zugleich die Bibelfrcmdheit heutiger Hörer spürt,
zeigen die in vielen Predigteinlcitungcn sich findenden
Versuche, gegen allgemeine Zwänge im heutigen negativen
Vorverständnis anzugehen.

Geistliches und biblisches Wissen müssen nicht Welt
fremdheit bei sich haben, im Gegenteil. Hier werden Menschen
unserer Tage, vor allem aus der akademischen Welt,
mehr mit ihren Zweifeln und Anfechtungen, weniger mit
ihrem negativen moralischen Verhalten, in eine Auseinandersetzung
zwischen Glaube und Zweifel, Dunkel und
Licht, Leiden an sich und der Welt wie in deren Überwindung
hineingenommen, ohne daß der Prediger sich selbst
davon distanzierte. Weniger Weisung für ein Leben mit
den Menschen im Alltag, mehr Ermutigung, es mit Gott zu
wagen, wird zum durchgehenden Thema. Weil das heute
seltener zu hören ist, möchte man sich eine Verbreitung der
Predigten wünschen.

„Solange er auch an ihnen arbeitete .... er war sich
der Endgestalt nie sicher, und schließlich legte er sie als
etwas Vorläufiges, nicht wirklich Abgeschlossenes beiseite . . .
Der Kampf um die gültige Aussage drängte die Sorge um
den abgerundeten Ausdruck in den Hintergrund" (Vorwort.