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Ausgabe:

1973

Spalte:

935-938

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Ehrensperger, Alfred

Titel/Untertitel:

Die Theorie des Gottesdienstes in der späten deutschen Aufklärung 1973

Rezensent:

Klaus, Bernhard

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liehen „Linien" kann man nur für sich selbst, schwerlich
für andere vorzeichnen.

Gern würde man mit den Autoren über eine Fülle von
Einzelheiten sprechen. Wo anfangen? Wo aufhören? Stimmt
es, daß, wer auf das Proprium des jeweiligen Textes achtet,
in der Inkarnation nicht den „Generaltext" für alle Weihnachtspredigten
erkennen wird (9/42)? Ist mit den neuen
Schläuchen für den neuen Wein nicht etwas sehr viel
Grundsätzlicheres gemeint als etwa neue kirchliche Formen
(9/130 f)? Ist das Proprium des Vaterunsers von Jesus als
dem „betenden Menschen" her anzugehen (9/255)? Fällt die
Geburbsstunde des Kosmos mit dem Abfall ineins (10/177)?
Was ist gemeint, wenn uns empfohlen wird, die Frage
„Wer ist der?" (Mt 8, 27) „von der anthropologischen Seite
her zu beantworten" (11/122)? Entspricht die Ermutigung
zu freiwilligem Dienst (gegen deren sachliche Richtigkeit
und Notwendigkeit nichts zu sagen ist) dem Skopus des
Gleichnisses von den Arbeitern im Weinberg (11/165 f)?
Verschiebt die Frage nach dem rechten Beten nicht die
befreiende Botschaft, um die es dem Gleichnis vom Pharisäer
und Zöllner geht (11/325)? Man würde gern noch
manches mehr fragen, nicht weil man behaupten wollte,
es besser zu wissen, sondern weil man mit der Sache noch
nicht fertig ist.

Band 6, von dem noch nicht die Rede war, setzt das
nützliche Werk von Band 5 fort: Vorarbeiten für Reihen -
predigten über alttestamentliche Textfolgen (Urgeschichte,
Elia, Volksklagepsalmen, Daniel). Dafj wir neben Peri-
kopenpredigten auch Predigten über zusammenhängende
Reihen brauchen, bedarf keiner Begründung. Die Reformatoren
- nicht nur in Zürich und Genf, sondern auch in
Wittenberg - haben gern Continua-Texte gepredigt. Die
OP sieht sie ebenfalls vor (andere Textvorschläge). Einige
der hier behandelten Texte sind übrigens in den Reihen
3-6 der OP verankert. Es kann, heißt es im Vorwort zu
Band 6, durch Reihenpredigten „so etwas wie ein Kontaktstudium
" stattfinden. Gerade dieses Stichwort weist freilich
auf eine Gefahr: es könnte aus der Verkündigung ein
Kolleg werden, wir könnten das „Genos Predigt" verfehlen.
Man wende nicht ein, dies hänge allein vom Inhalt ab; der
„Sitz im Leben" bestimmt in nicht geringem Maße den
Gebrauch, den wir vom Text machen. Die Bearbeiter selbst
leisten aber vorzügliche Hilfe, schon vom Zugang her die
Texte als Rede Gottes an seine Gemeinde zu erschließen.
Man lese z. B., was C. Westermann - dem der Band von
den übrigen Mitarbeitern als Geburtstagsgabe gewidmet
ist - über die Menschheitsbedeutung der Urgeschichte
schreibt; von den anderen Beiträgen ließe sich Analoges
sagen. Als besonders markant seien aber noch die Ausführungen
herausgehoben, die H.-D. Preuß am Ende seiner
Danielauslegung bietet über die Apokalyptik, deren
theologische Wiederentdeckung alte Einseitigkeiten korrigiert
und neue Aussichten freigibt.

Leipzig Gottfried Voigt

Ehrensperger, Alfred: Die Theorie des Gottesdienstes in
der späten deutschen Aufklärung (1770-1815). Zürich:
Theologischer Verlag [1971). 313 S. 8° = Studien zur
Dogmengeschichte u. systematischen Theologie, hrsg. v.
E. Jüngel, A. Rieh, G. W. Locher, J. Staedtke, 30. Kart.
DM 36,50.

Die Beobachtung, daß der Gottesdienst der Aufklärungszeit
„bisher fast ausschließlich unter negativen Gesichtspunkten
beurteilt" (9) worden sei, hat Vf. zu dieser Arbeit
- einer Zürcher theol. Dissertation - inspiriert, in der es
ihm um die Gewinnung positiver Aspekte geht. Kritisch
reflektierende Liturgieforscher (H. Lietzmann, L. Fendt
u. a.) hatten zwar schon lange vor ihm daran erinnert;
aber solange die liturgische Restaurationsbewegung auf

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ihrem Höhepunkt stand, agierten sie als einsame Rufer.
Das ist heute anders geworden, und so wird Vf. von einer
neuen Welle mitgetragen, wenn er der Aufklärung seinen
Tribut zollt. Für die zureichende Bewältigung der Aufgaben
wissenschaftlicher Forschung ist es aber nicht immer ungefährlich
, dem Modernen als solchem zu huldigen. Die Gefahr
droht vom Vor-Urteil. Sie zu bannen, ist allein eine
konsequent durchgehaltene wissenschaftliche Methode in
der Lage. In der Frage, ob Vf. diesem Erfordernis immer
gerecht geworden ist, liegt das Kriterium für die Würdigung
seiner Arbeit als einer wissenschaftlichen Leistung
beschlossen. (Daß sie verdienstvoll den Vor-Urteilen derer
wehrt, die die Aufklärung in Bausch und Bogen als „Auf-
kläricht" abtun zu dürfen meinen, steht auf einem anderen
Blatt!)

Für die Zielsetzung und das methodische Vorgehen verweist
Vf. auf die von etwa 1770 an einsetzende kritische
Auseinandersetzung der Theologie mit der liturgischen
Tradition, die ihren Niederschlag in zahlreichen Abhandlungen
und Zeitschriftenaufsätzen gefunden hat, daneben
auch in vielen Gesangbüchern, Gcbetssammlungen und Agenden
mit ihren aufschlußreichen Vorworten. Er grenzt sein
Material auf den Zeitraum von 1770 bis 1815 ein und
erklärt: „Das in diesen Quellen zum Ausdruck kommende,
der späten deutschen Aufklärung eigene Gottesdienstverständnis
herauszuarbeiten und in seiner inneren Problematik
darzustellen, macht sich diese Arbeit zur Aufgabe" (11).
Seine löbliche Absicht setzt zu ihrer Verwirklichung voraus,
daß Vf. seine Quellen nicht nur in alphabetischer Ordnung
der Verfassernamen aufzählt, wie es im Registeranhang
geschieht, sondern daß er sie vorstellt, ordnet und wertet.
Erst nach einer solchen, gewiß mühevollen Sichtung, Untersuchung
und Scheidung der Quellen, erst nach einer Feststellung
der Reichweite, die der Wirkungsradius eines Autors
einstmals gehabt hat, können Deduktionen überzeugend
vorgeführt werden.

Vf. geht anders vor im Interesse des auf der letzten
Seite angesprochenen Zieles, das er mit der Anfrage umschreibt
, „ob unsere Gottesdienste ihren gesellschaftstherapeutischen
Dienst überhaupt erfüllen können, ohne
daß . . . ganz grundlegende Strukturveränderungen vorgenommen
werden" (298). Für die heute von ihm für erforderlich
gehaltene und der Theologie zugeschriebene „gesellschafts
therapeutische Verantwortung" lenkt er den Blick zurück auf
die späte deutsche Aufklärung. Er umkreist sein Anliegen von
drei verschiedenen Ansätzen aus. Zuerst beschreibt er in
Kürze das Selbstverständnis der deutschen Aufklärung. Er
will ihr „geistiges Klima" bestimmen, um die ihren Gottesdiensttheorien
zugrunde liegenden Denkstrukturen zu ermitteln
. So fragt er nicht zuletzt, wie aufgrund der Thema-
stcllung zu erwarten wäre, nach den Gottesdiensttheorien,
die er untersuchen will, sondern stellt sich zuerst der
Frage: „Was ist Aufklärung?" Die Unbekannte steckt aber
nicht in dem hinreichend bekannten „geistigen Klima" der
Aufklärung, über das auch er keine neuen Aufschlüsse gibt,
sie steckt vielmehr in den weit weniger bekannten Gottesdiensttheorien
. Über diese hätte man sehr gern sehr detaillierte
Auskünfte gehabt, bevor man sich auf eine kritische
Auseinandersetzung mit ihnen einläßt. Immerhin erfreut die
Auffassung, das das Denken der Aufklärung in der „Wiederherstellung
, Reinigung und Konzentrierung auf das Wesentliche
" (24) zu erfassen sei.

Der II. Teil der Arbeit ist der Definition und Begründung
der öffentlichen Gottesverehrung um 1800 gewidmet.
Um die dafür erforderlichen Auskünfte zu bekommen,
untersucht Vf. die bei den Aufklärungsliturgien am häufigsten
gebrauchten Begriffe. Dazu gehören: Zweckmäßigkeit
und Zweckdienlichkeit der Gottesdienste, ferner der „Endzweck
", der in der Vermittlung der „Prinzipien der Moral"
liegt, und schließlich Belehrung und Erbauung als Mittel,
zu diesem Endzweck zu gelangen. Es ergibt sich schon aus

Theologische Literaturzeitung 98. Jahrgang 1973 Nr. 12