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Ausgabe:

1973

Spalte:

930-932

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Benko, Stephen

Titel/Untertitel:

Protestanten, Katholiken und Maria 1973

Rezensent:

Beintker, Horst

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Theologische Literaturzeitunf 98. Jahrgang 1973 Nr. 12

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ihrer Gültigkeit der Veränderung in der Geschichte prin
zipiell entzogen ist. Diese Wahrheit ist aber nicht in der
Form bestimmter Sätze gegeben, die durch die theologische
Arbeit, unter der Aufsicht des Lehramtes, zunehmend genauer
expliziert werden könnten. Vielmehr ist das Gesamt
jener Wahrheit von den Aposteln unreflex erfaßt worden.
Die Dogmenentwicklung setzt ein, indem diese vorprädikativ
gegebene Wahrheit schon von den Aposteln selbst
in prädikative Aussagen gefaßt wird. In der Spannung
zwischen dem Gesamt der Offenbarung (das eigentlich das
Christusereignis selbst ist) und ihrer Explikation in der
Geschichte vollzieht sich die Dogmenentwicklung. Sie ist
prinzipiell unabschließbar, weil »die Erkenntnis und das
Verstehen eines Ereignisses n i e das ursprünglich ganzheitliche
Haben desselben ausschöpft": die Identität von
Denken und Sein bleibt ausständig, da der Mensch Wahrheit
immer nur in der Bindung an Seiendes aussprechen
kann (262). Indem Schulz die Wahrheit des depositum fidei,
dessen Explikation das Dogma der Kirche ist, identifiziert
mit dem Christusereignis und dieses interpretiert durch die
Kategorie des Seins selbst, das von dem Menschen immer
nur geschichtlich erkannt zu werden vermag, kann er tatsächlich
eine Lösung für die Antinomie zwischen Offenbarungswahrheit
und Geschichtlichkeit des Dogmas anbieten
, die des Relativismus nicht verdächtig ist. Entscheidend
ist für ihn, daß die reflexive Erkenntnis der Wahrheit,
die auf das geschichtlich Seiende bezogen ist, selbst nicht
der Geschichtlichkeit entnommen sein kann. In Auseinandersetzung
mit scholastischer Terminologie bezeichnet er
diese Erkenntnisform als „Formalobjekt in concreto"
(231 ff.) - weil die geschichtliche Erkenntnis auch einer
unwandelbaren Wahrheit (des Materialobjektes der Erkenntnis
) selbst konkret und damit geschichtlich ist.

Mit solchen Denkvoraussetzungen gewinnt Schulz die
Möglichkeit, nun doch von einer der Geschichtlichkeit entnommenen
, unwandelbaren Wahrheit zu sprechen (275;
291 ff ). Diese unwandelbare Wahrheit ist aber verstanden
als der Kern der Dogmen, nicht als die Summe ihrer Sätze -
als das vorprädikative Erfassen des Christusereignisses, als
das eigentliche Mysterium, das dem Glauben durch die
Gnade Gottes geschenkt wird. Es entpricht diesem Ansatz,
daß in der Diskussion der theologischen Faktoren, die die
Formulierung des Dogmas der Kirche bestimmen, die
eigentlich geschichtlichen vorangestellt werden: unter ausdrücklicher
Abwertung der Suffizienz logischer Explikationsverfahren
wird vor allem das Glaubensbewußtsein der
Gesamtkirche als Subjekt der wachsenden Einsicht in die
Wahrheit der Offenbarung verstanden: der sensus
fidei erfaßt neue, bisher nicht erkennbar gewesene
Seiten der Offenbarungswahrheit, die dann vom Lehramt
der Kirche als Dogmen proklamiert werden. Charakteristisch
ist dabei die sekundäre Rolle, die dem Lehramt
zugewiesen wird: es verfügt über keine eigene Erkenntnis
oder Gewißheitsquelle gegenüber dem Glaubenssinn des
Gottesvolkes; die Lehrentscheidung des Papstes kann niemals
selbst Wahrheitsgrund des Dogmas sein. Vielmehr
wird die Dogmenentwicklung im Kern pneumatisch verstanden
: obwohl der Heilige Geist nicht selbst neue
Offenbarungen schenkt, ist er doch in dem Überlieferungsprozeß
des Evangeliums ständig wirksam: die neuen Erkenntnisse
über die Wahrheit der Offenbarung gehen so
auf den Geist selbst zurück.

Das also ist das Ergebnis des Buches. Die Arbeit ist
umfassend angelegt, in der Durchführung gründlich und
zugleich etwas schwerfällig.- Problembeschreibung, Darstellung
der verschiedenen Autoren und eigene Diskussion
könnten weithin etwas souveräner erfolgen. Man kann das
aber in Kauf nehmen, denn m. E. stellt die vorliegende
Studie einen interessanten Beitrag dar im gegenwärtigen
Gespräch um die Frage der Dogmenentwicklung. Es wird
der Versuch einer Synthese gewagt, die den konkurrierenden
Anliegen verschiedener Ansätze Rechnung trägt. Für
den protestantischen Leser ist es bereits von Interesse, die
Denkvoraussetzungen der neueren römischen Theologie so
genau diskutiert zu sehen - da Schulz bemüht ist, trotz
seines eigenen andersartigen Ansatzes auch ihr gerecht zu
werden. Vor allem aber zeigt die klare Betonung der pneu
matologischen und ekklesiologischen Grundlagen der Dogmenentwicklung
die positiven, weiterführenden Möglichkeiten
katholischer Theologie jenseits einer einseitigen
Debatte über die Infallibilität.

Interessant ist nun aber auch, welche Probleme ungelöst
bleiben. Es zeigt sich nämlich eine unausgeglichene, vielleicht
unausgleichbare Spannung zwischen jener Hauptlinic
der Untersuchung, die ganz an der Geschichts-Ontologie
der Wahrheit orientiert ist, und den traditionellen Aussagen
katholischer Dogmatik, die die Irreformabilität des
Dogmas betonen. Das Problem besteht ja nicht nur darin,
daß die Dogmenentwicklung neue Einsichten gebracht hat,
die nicht als Explikation neutestamentlicher Sätze begriffen
werden können, sondern nur in einer wachsenden, vom
Heiligen Geist garantierten Einsicht in das Gesamt der
Offenbarung legitimiert sind (z. B. die neueren mariologischen
Dogmen). Geschichtlichkeit bedeutet doch zugleich,
daß prädikative Sätze über das Christusereignis zu späterer
Zeit nicht mehr als hilfreich erfahren, vielleicht als mißverständlich
oder sogar als falsch betrachtet werden müssen.
Dies ist nicht nur ein Problem katholischer Dogmatik: die
Diskussion um die Lcuenberger Konkordie hat entsprechende
Überlegungen auch im protestantischen Raum sichtbar gemacht
. Die erkenntnistheoretische Grundlegung, die Schulz
bietet, begründet nur die - letztlich übergeschichtlich gedachte
- Geschichtsüberlegenheit der ursprünglichen Offenbarung
; sie begründet nicht die Unüberholbarkeit der
Dogmen. Diese aber will Schulz ganz strikt festhalten.
Er bindet sich damit wiederum an das genuin katholische
Geschichtsverständnis, das Tradition nur als einen Prozeß
wachsender Entfaltung, nicht aber des Widerstreites von
Gehorsam und Versagen des Menschen sieht. Geschichtlichkeit
wird damit optimistisch unter dem Präjudiz der ständigen
Annäherung an die Wahrheit gesehen - und so
einer wesentlichen Dimension, nämlich der des Widerstandes
des Menschen gegen das Evangelium, beraubt. Die
geschichtstheologische Diskussion weist so zurück auf
ekklesiologische Vorentscheidungen, die nach dem II. Vatikanischen
Konzil doch noch offenbar diskutiert werden
könnten. Wo die Problematik der Dogmenentwicklung so
genau gesehen wird, da müßte die Möglichkeit bestehen,
nicht nur verharmlosend von Verdunkelungen der Wahrheit
zu reden, sondern nach Fehlentscheidungen auch des Lehramtes
zu fragen. Das ist freilich eine Aufgabe, die sich
protestantischer Theologie ebenso stellt. Die vorliegende
Studie macht aber Mut dazu, vielleicht sogar gemeinsam
an dieser Aufgabe weiterzuarbeiten - etwa an der Frage
nach den theologischen Kriterien für die Wahrheitserkenntnis
, nach dem Verhältnis von Pneumatologie und Ekklesio-
logie. Daß der Geist es ist, der in alle Wahrheit leitet,
müßte dann wohl im Mittelpunkt der weiteren Überlegungen
stehen.

Naumburg/Saale llarahl BchultM

Benko, Stephen, Prof.: Protestanten, Katholiken und Maria.
Eine kritische Darstellung der römisch-katholischen und
der protestantischen Äußerungen zur Mariologie. Hamburg
-Bergstedt: Reich 1972. 136 S. gr. 8° Theologische
Forschung. Wissenschaft! Beiträge zur kirchl.-evang.
Lehre, hrsg. v. H.-W. Bartsch, F. Buri, D. Georgi,
G. Harbsmeier, J. M. Robinson, F. Theunis, K. Wegenast,
LI. Kart. DM 18,-.

Mit einem Geleitwort von Oscar Cullmann legt Benko
die von ihm selbst vorgenommene Übersetzung seiner im