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Ausgabe:

1973

Spalte:

927-930

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Schulz, Winfried

Titel/Untertitel:

Dogmenentwicklung als Problem der Geschichtlichkeit der Wahrheitserkenntnis 1973

Rezensent:

Schultze, Harald

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nischen Recht. Damit schufen die führenden Wittenberger
Männer eine scharf geschliffene, für Jahrzehnte wirksame
Waffe im Kampf mit der Papstkirche.

Da dieses Dokument wie kein anderes die Verquickung
der gesellschaftlichen und religiösen Auseinandersetzungen
zu Beginn des 16. Jahrhunderts künstlerisch darstellt, hat
es der Verlag im Einklang mit der Zielstellung der Cranach-
Ehrung der DDR als besonders eindrückliches Zeugnis der
auch als Epoche der frühbürgerlichen Revolution verstandenen
Reformationszeit herausgebracht.

Obwohl die konkrete Polemik des Passionais überholt
ist, ist seine Gesinnung aktuell geblieben. Hildegard
Schnabel drückt das abschließend so aus: „Jedoch die im
Passional als Ganzem künstlerisch gestaltete Aufforderung
zur Entscheidung für eine wahrhaft humanistische Lebensführung
löst dieses Zeitdokument aus seiner konkretgeschichtlichen
Verklammerung und macht es als lebendiges
Erbe für uns rezipierbar, weil im historischen Ringen unserer
Tage - wenngleich auch auf einer höheren gesellschaftlichen
Entwicklungsstufe und mit ungleich weitgespannteren
Zielen - auch wiederum Entscheidungen verlangt
werden, zu denen wir alle, Christen wie NichtChristen,
aufgerufen sind."

Leipzig Ilnrtmut Mai

SYSTEMATISCHE THEOLOGIE

Schulz, Winfried: Dogmenentwicklung als Problem der Geschichtlichkeit
der Wahrheitserkenntnis. Eine erkenntnistheoretisch
-theologische Studie zum Problemkreis der
Dogmenentwicklung. Roma: Libreria Editrice dell'Univer-
sitä Gregoriana 1969. XXXI, 356 S. gr. 8° = Analecta
Gregoriana Cura Pontificiae Universitatis Gregorianae
ed'i'ta. Vol. 173, Series Facultatis Tbeologicae: Sectio B,
n. 56. Lire 4.000,-.
Die Frage nach der Entwicklung des Dogmas gehört
zu dem Schwierigsten, was die Theologie in den letzten
beiden Jahrhunderten zu verhandeln hatte und auch künftig
noch, weiter wird verhandeln müssen. Es ist ein
Problem, das sich für jede Theologie ergibt, die sich an
die fortdauernde Geltung nachbiblischer, kirchlich autorisierter
Texte gebunden weiß. Die evangelische Theologie
wird dem nicht ausweichen dürfen. Aber für die katholische
Theologie mußte die Frage nach der Begründung und
dem Wahrheitsanspruch kirchlicher Lehrentscheidungen in
besonderem Maße brennend werden, als sie sich neu auf
die einzigartige Autorität der Schrift besann und zugleich
dessen innewurde, daß die neuere Weiterbildung des
Dogmas nicht mehr unmittelbar als Explikation biblischer
Aussagen interpretiert werden konnte. Es ist darum verständlich
, daß sich die katholische Theologie in den letzten
Jahren der Frage nach der Dogmenentwicklung in verstärktem
Maße zugewandt hat. Nachdem Hammans 1965 eine
ausführliche historische Studie über die neueren Erklärungen
der Dogmenentwicklung vorgelegt hatte, ist nun die
Arbeit von Winfried Schulz als eine „erkenntnistheoretisch
-theologische Studie zum Problemkreis der Dogmenentwicklung
" erschienen.

Es ist die Absicht des vorliegenden Buches, einen systematischen
Beitrag zu leisten für die Lösung der Antinomie,
auf die alle Überlegungen zur Dogmenentwicklung zurückgeführt
werden müssen: der Antinomie zwischen dem Abgeschlossensem
der in der Schrift bezeugten Offenbarung
einerseits und dem produktiven Prozeß geschichtlicher Entwicklung
des Dogmas andererseits. „Wie können wir, wenn
wir auf die Fülle der Dogmen der Kirche blicken, noch
sagen, daß diese Wiedergabe der an die Apostel ergangenen
Offenbarung sind, obwohl wir zur gleichen Zeit
wissen, daß sich diese Vielfalt entwickelt hat und daß es

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dogmatische Sätze gibt, die zumindest in ihrer expliziten
Form sich mit einiger historischer Wahrscheinlichkeit nicht
bis in die Zeit der Apostel zurückverfolgen lassen, j:i
deren historische Existenz in jener Zeit füglich bezweifelt
werden kann?" (67). Schulz geht bei der Suche nach einer
Antwort davon aus, daß es nicht angeht, nur einen jener
beiden Aspekte zu berücksichtigen. Eine umfassende, abgewogene
Lösung soll gefunden und erkenntnistheoretisch
begründet werden. Voraussetzung ist dabei, daß es sich
um eine „quaestio libera" für die katholische Dogmatik
handelt: die lehramtlichen Entscheidungen, die die Unver-
änderlichkeit des Dogmas konstatieren, interpretiert Schulz,
in Übereinstimmung mit den meisten Dogmatikern der
Gegenwart, als Abwehr des Relativismus, nicht aber als
Bestreitung einer geschichtlichen Entwicklung des Dogmas.

Auf Grund solcher Aufgabenstellung nimmt die historische
Darstellung bisheriger Stellungnahmen katholischer
Theologen zu der Frage der Dogmenentwicklung nicht einmal
die Hälfte des Buches ein: dieser Teil soll nur der
Profilicrung der Fragestellung dienen. Schulz unterscheidet
(ähnlich wie Hammans) zwischen 1. den „intellektualisti-
schen", d. h. die Geschichtlichkeitsproblematik ausgrenzenden
Erklärungsversuchen (73-124), 2. den an der Frage
nach der Überlieferung der Offenbarung orientierten Entwürfen
(125-170) und 3. den sog. „theologischen" Erklärungsversuchen
(171-212). Der intellektualistischen Richtung
werden die Theologen der römischen Schule im
19. Jahrhundert (Franzelin, Perrone, Schechen) zugerechnet,
aber auch diejenigen Theologen des 20. Jahrhunderts, die die
Dogmenentwicklung streng als die logische Explikation der
ursprünglichen Offenbarung verstehen (Schultes, Tuyaerts,
Marin-Sola). Vom Ansatz bei einem geschichtlichen Traditionsverständnis
her werden nicht nur die Vertreter der
Tübinger Schule (Drey, Möhler und Kuhn) und J. H. New-
man, sondern auch M. Blonde! betrachtet. Unter dem
Etikett der „theologischen" Erklärungsversuche berichtet
Schulz dann über ganz verschiedene Arbeiten aus den
letzten Jahrzehnten, die der Bedeutung des Heiligen
Geistes, des Glaubensverständnisses, des sensus fidei und
des kirchlichen Lehramtes für die Dogmenentwicklung gewidmet
sind. Schon in der kritischen historischen Darstellung
zeigt sich eine starke Distanz zu dem intellektualistischen
Ansatz - und ebenso ein Unbehagen gegenüber „theologischen
" Lösungen, die der Geschichtlichkeit nicht Rechnung
tragen oder die pneumatologiseh oder ckklcsiologisch
gewaltsam vorgehen. Dagegen wird der Erklärungsversuch
von Joh. Ev. Kuhn mit größter Zustimmung referiert; die
besondere Wertschätzung M. Blondels entspricht der Wiederentdeckung
dieses Theologen in der gegenwärtigen
katholischen Theologie.

Im dritten Teil der Arbeit, der den eigenen systematischen
Entwurf ausführt (213- 346), werden dann die
Namen genannt, denen Schulz die wesentlichen Anregungen
verdankt. Was Heidegger in seinen späteren Arbeiten zur
Ontologie der Wahrheit sagt, was von Bultmann und Gada-
mer dann ausgearbeitet worden ist für die Prinzipienlehre
vom Verstehen geschichtlichen Daseins, und was Karl Rahner
und Walter Kasper unter fundamentaltheologischer
Reflexion davon übertragen haben auf die Frage nach der
geschichtlichen Dimension kirchlicher Lehre, ist offensichtlich
für die Fragestellung des Vf.s bestimmend geworden.
Man wird daher, gerade bei einem so vielfach behandelten
Thema, nicht unmittelbar neue Argumente erwarten. Die
Bedeutung der Arbeit liegt vielmehr in der Zusammenschau
der Probleme und in der Begründung eigener Akzentsetzung
. Schulz geht von der für ihn als kirchlichen Theologen
undiskutierbaren Voraussetzung aus, daß die Offenbarung
, als Wort- und Tatoffenbarung im Christusereignis,
mit dem Tode des letzten Apostels abgeschlossen ist. Das
bedeutet, daß die ganze Wahrheit, die Gott hat mitteilen
wollen, schon gegeben ist und darum in ihrem Sinn und

Theologische Literaturzeitung 98. Jahrgang 1973 Nr. 12