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Ausgabe:

1973

Spalte:

873-875

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Siebel, Wigand

Titel/Untertitel:

Freiheit und Herrschaftsstruktur in der Kirche 1973

Rezensent:

Kretzschmar, Gottfried

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Theologische Literaturzeitung 98. Jahrgang 1973 Nr. 11

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suchenden hinweisen kann, sondern nur als „Übertragungs-
gott" im Sinne Freuds (vgl. S. 23f)? Sch. grenzt sich gegen
dieses Mißverständnis hier nicht eindeutig ab, während er
sich in seinem Aufsatzband (S. 200ff) z. B. von der Gott-ist-
tot-Theologie distanzierte.

Wir können auf den folgenden § 5 .Kritische Punkte der
Gesprächsführung" nicht weiter eingehen, obwohl dort so
gewichtige Probleme wie die Angst, das Agieren und der
Abbruch des Gespräches behandelt werden. Ähnliches gilt
für § 6 .Die Gesprächsreihe". Beide Paragraphen bewegen
uns aber zu einem Einwand, der sich auf das ganze Programm
des Buches bezieht: Vf. benutzt überwiegend den
Terminus „Ratsuchender" und sieht in der Beratung .immer
Konfliktberatung" (143). Das mag für die Klientele kirchlicher
Beratungsstellen zutreffen. In der kirchlichen Einzelseelsorge
haben wir es aber keineswegs nur mit Menschen
zu tun, die spontan Rat suchen oder objektiv gesehen Rat
brauchen. In ihr geht es auch nicht blofj um .Betreuung" im
Sinne Sch.s, der dabei Sonderfälle wie Psychosen, unheilbare
Krankheiten und Suizidgefahr im Blick hat (vgl. 145).

In der Gemeinde ist das Zwiegespräch zwischen dem Pastor
und einem Gemeindeglied oder einem Außenstehenden
vielmehr in der Regel die unentbehrliche Form der Kommunikation
, der Information und - horribile dictu - auch der
Verkündigung - oder sagen wir lieber: des Angebots der
Wort- und Tathilfe. Vf. berücksichtigt außerdem zu wenig,
dafj der Seelsorger im partnerschaftlichen Gespräch immer
zugleich selber Seelsorge empfängt, und er übergeht ganz
das Problem der sog. Laienseelsorge. Diese Einwände
müssen freilich gegenüber den Darstellungen der seelsorgerlichen
Gesprächsführung bei Rensch, Stollberg und Thilo
ähnlich erhoben werden. Seelsorge ist mehr als nur die Beratung
durch Spezialisten, so notwendig diese in vielen Fällen
sein mag. Das Buch Sch.s handelt u. E. also mit Recht von
.Seelsorge als Beratungsgespräch", stellt aber nicht die Seelsorge
und ihre Methodik im ganzen dar. Wir werden bei
allem schuldigen Dank an den Autor uns mit dieser Monographie
doch nur teilweise bzw. vorläufig zufriedengeben
können und auf weitere Beiträge zur Sache aus seiner Feder
warten.

Corrigenda: S. 57, Zeile 7. fehlt ein .in" oder .während". - S. 133,
Z. 23, muß .sie" klein geschrieben werden.

Rostock Ernst-Rüdiger Kiesow

Roessler, Roman, u. Karl Dienst: Die Ortsgemeinde im Nachbarschaftsbezirk
. Gedanken zur Gemeindestruktur nach
Vorstudien der Strukturkommission der BKHiN. München:
Kaiser (1971). 62 S. 8° = Versuche zur kirchlichen Praxis,
hrsg. v. d. Evang. Kirche in Hessen und Nassau. DM 4,80.

Siebel, Wigand: Freiheit und Herrschaftsstruktur in der Kirche
. Eine soziologische Studie. Berlin: Morus-Verlag
(1971]. 115 S. 8° = Religionssoziologische Schriften, hrsg.
v. W. Siebel, 1. Kart. DM 8,80.

Viele Elemente der traditionellen Form kirchlichen Gemeindelebens
entsprechen nicht mehr der mobilen Gesellschaft
. Deshalb verstärken sich in jüngster Zeit die Bemühungen
, dieser Vielfalt gerecht zu werden und den Gläubigen
neue Formen des Zusammenlebens und -wirkens innerhalb
der Kirchgemeinde und unter den Kirchgemeinden des
Nachbarschaftsbezirkes anzubieten.

Im Auftrage der Evangelischen Kirche von Hessen und
Nassau unterbreitet nunmehr eine Strukturkommission Vorschläge
zur Neuordnung der Kirchgemeinden. Der Entwurf
konzentriert sich, wie Kirchenpräsident Hild einleitend sagt,
.vor allem auf die Frage, wie unter den veränderten Gegebenheiten
die Ortsgemeinde aus ihrer weitgehenden Isolierung
befreit und durch nachbarschaftliche Zusammenarbeit
in ihren Wirkungsmöglichkeiten erweitert werden kann."
(S. 3).

In den Einzelausführungen wird die „Kirche am Ort" nirgends
in Frage gestellt; sie soll vielmehr von Überfunktionen
entlastet werden, um die eigentlichen Aufgaben besser
erfüllen zu können. Dies aber erwarten die Kommissionsmitglieder
durch das Modell der „Ortsgemeinde im Nachbarschaftsbezirk
". Während der 1. Teil mit dem „Strukturplan
" (S. 11-32) bekannt macht, indem er Unzulänglichkeiten
im Leben der herkömmlichen Kirchgemeinde aufzählt,
Thesen und Leitsätze daraus ableitet und einen Katalog von
Pastoralen Aufgaben zur Diskussion stellt, führt der 2. Teil
(S. 33-46) zu Modellen der überörtlichen Zusammenarbeit.
Der 3. Teil (S. 47-49) vermittelt stichwortartig Grundregeln
der Modellerprobung, während Teil 4 (S. 50-61) Berichte
darbietet aus vier Gemeinden, in denen seit einigen Jahren
diese Überlegungen konkrete Gestalt angenommen haben.
Die Mitglieder der Team- bzw. Gruppenpfarrämter nennen
dabei nüchtern Erreichtes und Unerreichtes, weisen auf
Schwierigkeiten der Teamarbeit hin („Die zum Teil stark
voneinander abweichenden theologischen Positionen führen
bisweilen zu zeitraubenden Klärungsversuchen", S. 61) und
berichten von Vorteilen dieser Arbeitsweise (theologische
und praktische Anregungen und Ergänzungen, Befreiung
vom Isoliertsein etc.).

Insgesamt also eine anregende Studie, die für sich hat,
daß sie nicht im Theoretischen steckenbleibt, sondern zum
Gemeindealltag durchdringt. Deshalb ist ihr eine Verbreitung
weit über die Evangelische Kirche von Hessen und
Nassau hinaus zu wünschen.

Auch um Strukturfragen, jedoch in der römisch-katholischen
Kirche und in einem viel grundsätzlicheren Sinne, geht
es in dem Buch von Wigand Siebel. Der Ordinarius für
Soziologie an der Universität Saarbrücken hat es mit dieser
Veröffentlichung unternommen, „sich einmal im Theologischen
zu versuchen" (S. 5). Zunächst mutet er dem Leser
eine gründliche Klärung soziologischer Begriffe und Zusammenhänge
czu. Der dafür Interessierte wird die vier Eingangskapitel
über Mitgliedschaft, soziales Handeln, Herrschaft
und Amt sowie Herrschaft und Kult als Notwendigkeit
und Bereicherung für die letzten beiden Kapitel empfinden
, zumal hier die eigentliche Auseinandersetzung mit
.Tendenzen" (so lautet die Überschrift zum 5. Kapitel) innerhalb
der römisch-katholischen Theologie und Kirche einsetzt.

In der Form der Frage werden Theologen wie Küng,
Blank, Rahner und Metz - um diese Vertreter progressiver
Positionen geht es vor allem - um Antwort gebeten. Aus
ihren Veröffentlichungen, soweit sie Siebel bekannt sind,
haben sich ihm Probleme und Anfragen ergeben wie diese:
(5.1) Schließt kirchliche Diakonia Herschaft aus? (5.2) Gibt
es einen „kultisch-saoerdotalen" Priester? (5.3) Sind Herrschaftszeichen
Ausdruck fehlender christlicher Armut? (5.4)
Soll man das Amt in der Kirche „funktionalisieren"? (5.5)
Muß die Kirche „kritische Freiheit" institutionalisieren?

Welche Erwägungen der Vf. auch anstellt, immer sollen
dadurch zwei Thesen gestützt werden, die deutlich hervortreten
: 1. Die Krise in der Kirche der Gegenwart ist wesentlich
eine Führungskrise, die durch den Abbau kirchlicher
Autorität hervorgerufen wurde und bis zur „Verunsicherung
der Priester" (S. 109) reicht. 2. Die Resozialisierung der
Kirche und damit eine Resakralisierung ist das Gebot der
Stunde.

Sieber befürchtet, falls sich die Ansichten der oben zitierten
Theologen (und ihrer Gesinnungsfreunde) weiter durchsetzen
sollten, die Anomie, den „Zustand der Normlosigkeit"
(S. 103). So kann er im Blick auf manches, was heute schon
in der Kirche passiert, sagen: „Der Rückgang des Herrschaftsbewußtseins
hat weiter zur Folge, daß die Orientierung
der Mitglieder an der Kirche als Sozialsystem nachläßt
und der Einfluß der Kirche in der Welt zurückgeht. Es
besteht eine ausgesprochene Tendenz zur Reduzierung des
Sakralbereiches nicht nur im Hinblick auf den priesterlichen
Dienst, sondern auch auf den Kult" (S. 109f).