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Ausgabe:

1973

Spalte:

865-867

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Titel/Untertitel:

Der sexuelle Notstand und die Kirchen 1973

Rezensent:

Schulz, Hansjürgen

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Theologische Literaturzeitung 98. Jahrgang 1973 Nr. 11

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tierung wird ungenügend entfaltet, denn „erst, wenn es gelänge
, die fundamentalen Heilsgeheimnisse, Inkarnation und
Auferstehung, Leiden und Tod als Perspektiven der sittlichen
Norm und Paradigmata einer Ethik der Nachfolge sichtbar
zu machen, käme das Programm der Normenfindung
voran" (S. lOOf). Statt dessen wird wieder die Liebe zu
einer über den Wechsel in Welt und Geschichte erhabenen
Norm, die nicht wirklich in die Situation eingeht, um sich
mit ihr zu verbinden.

Die Kritik des Verfassers an den drei Autoren einer „new
morality" läßt sich darin zusammenfassen, daß der induktive
Ansatz der Ethik zwar begrüfjt, seine Durchführung
jedoch bemängelt wird. Der Vf. sucht in einem kurzen
Schlußteil einen positiven Beitrag dazu zu leisten, wie mit
Hilfe eines bildhaften Modells diesem Mangel abzuhelfen
sei, vermag aber in der Knappheit der Darlegungen keinen
Beweis dafür anzutreten, daß es so gelingt, „die Wirklichkeit
zu fassen". So verstärkt sich beim Leser die Vermutung
, daß der Diskussion in der theologischen Ethik heute
weniger mit grundsätzlichen Überlegungen über Methodenfragen
als mit der konkreten Analyse und Reflexion ethischer
Einzelprobleme gedient wird.

Leipzig Joachim Wiebering

Leist, Fritz: Der sexuelle Notstand und die Kirchen. Gütersloh
: Gütersloher Verlagshaus Gerd Mohn [1972]. 237 S.
8°. Kart. DM 6,80.

Der Band enthält eine Dokumentation von Briefen, die
dem Verfasser, Professor für Philosophie und Religionsphilosophie
in München, für die anonyme Veröffentlichung
zur Verfügung gestellt worden sind. Auf dem Hintergrund
seiner früheren Arbeiten (Liebe, Geschlecht, Ehe, 1967; Zölibat
- Gesetz oder Freiheit, 1968 u. a.) kommentiert Leist
diese Briefe: Kommentar und Dokumente sollen „zeigen,
wie schwer es ist, geschlechtliches Verhalten in rechter Weise
zu erfassen und zu leben ... Dieses Buch ist kein Angriff
auf irgendeine Kirche... Im Gegenteil: Es will einen Beitrag
leisten für ein sachgemäßes, im Evangelium begründetes
Verständnis der zwischenmenschlichen Beziehungen"
(Vorwort). Trotz eines Verständniswandels, den der Vf. vor
allem in der evangelischen Theologie angebahnt sieht (Los-
lösung von gesetzlichen Moralvorstellungen), hat sich „in
vielen Ehen und Gemeinden diese Neubesinnung noch nicht
durchgesetzt". Die 66 Briefe sind allerdings bedrückend. Sie
stammen überwiegend von Katholiken. Das durchschnittliche
Lebensalter der Briefschreiber liegt bei 35,8 Jahren;
fast zwei Drittel sind verheiratet; es äußern sich 24 Frauen
und 42 Männer.

Teil I - der Kommentar - versucht den Problemihinter-
grund des „sexuellen Notstandes" zu erhellen (13-59). Leist
konzentriert die unterdessen sattsam verhandelten Faktoren
auf zwei: 1. die Angst eheloser Männer der Kirche, die
auf Grund ihrer theologischen Schulung und ihrer Machtbefugnisse
ein „geschlossenes Abwehrsystem" gegen die
„Lust" entwarfen und durchzusetzen imstande waren. Belege
dafür werden von Augustins „Konfessionen" bis zum „Geistlichen
Tagebuch" Jobannes' XXIII. und der Enzyklika „Hu-
manae vitae" Pauls VI. knapp und ohne nähere Differenzierungen
vorgesellt. 2. Die passive Übernahme der kirchlichen
Sexualmoral durch die Laien mit ihren Folgen im intimen
und pädagogischen Verhalten. Diffamierung des Geschlechtsaktes
, Straferziehung mit Angst- und Neurosenerzeugung
werden entfaltet. „Immer noch ist der Hintergrund
nicht überwunden, der die Grundlegung für die Geschlechtsfeindschaft
und Angst unter Christen möglich gemacht hat"
(29). Gegen die platonisch-gnostische Tradition von der Entfremdung
zwischen Geist und Geschlecht formuliert Leist
seine Position: „Statt zu entfremden, wird der sinnvoll erfahrene
geschlechtliche Akt zu einer Erfahrung der Eigentlichkeit
menschlicher Existenz als männlicher und weiblicher
Existenz ... Dialog der Liebe ist die Geschlechtsgemeinschaft
in der Ehe und nicht ,Triebbefriedigung'.. ." (32, 36).

Interessanterweise hält Vf. gerade im Bereich der Ge-
schlechterbeziehungen eine Wandlung der Christenheit aus
dem „lebendigen Umgang mit der Bibel" für möglich: „Heute
haben ,Laien', die zugleich theologisch gebildet sind
und aus der Bibel zu leben versuchen, ihre eigenste Angelegenheit
, das geschlechtliche Leben von Mann und Frau,
selbst in die Hand genommen" (40). So vertraut uns diese
Sicht der Bibel als des emanzipierenden Ursprungs gegenüber
kirchlicher Stabilisierung auch ist, es bleibt die Frage,
inwieweit die Bibel für heutige Verantwortung der Sexualität
unmittelbar in Anspruch genommen werden kann. Die
Briefe sprechen denn auch von anderen Büchern, nämlich
von Aufklärungsliteraturl

Teil II - die Dokumentation - besteht aus sieben mit
kurzen Einleitungen versehenen Abschnitten:

1. Schweigende und strafende Eltern (63-84). Leist hatte
schon am Ende des Kommentars (54-57) darauf hingewiesen
, daß Eltern, die ihre Kinder für sexuelle Spiele strafen,
nicht nur Vcrheimlichungs- und Angstdruck schaffen, sondern
auch sich selbst oder den Ehepartner strafen und mittreffen
wollen. Die Berichte belegen dies in erschreckender
Weise.

2. Unheilvolle religiöse Einflüsse. Hier zeigt sich in den
Briefen vor allem der starke psychische Druck von Religionsunterricht
und Beichtinstitut auf katholische Jugendliche
. Die „Ideologie von rein und unrein" ließ als heile Welt
nur jene gelten, „in der es kein Geschlecht gab" (85). Ein
36jähriger katholischer Handwerker schreibt: „Nie mehr
kann ich zum Beichten gehen, ohne das Bewußtsein, als Kind
oft .ungültig' gebeichtet zu haben und ,unwürdig' das Brot
des Herrn gegessen zu haben. Rückschauend frage ich mich,
ob die in meiner Schulzeit geübte Beichbpraxis mein Gewissen
gebildet oder nur meinen Charakter verbildet hat. Die
Antwort ist nicht leicht. Ich 'halte nichts von konfliktfreier
Erziehung. Auf dem Gebiet des Sexuellen aber schuf die
Büß- und Beichtpraxis unnötige Konflikte. Daher die nur
noch selten von Anläufen neuen guten Willens unterbrochene
immer stärkere Entfremdung diesem Sakrament gegenüber
" (89).

3. Qualvolle, schuldbeladene Pubertät (110-121). Hier zeigen
die Berichte, wie angstbesetzt die (Erfahrungen erster
Menstruation und Pollution noch immer sein können.

4. Bitterkeit und Enttäuschung der ersten Erfahrungen
(122-149). Fast auf jeder Seite werden Ekel und Angst neben
der Sehnsucht nach Geborgenheit und Liebe ausgesprochen
. Freilich klingt durch die Berichte auch die Möglichkeit
der Entdeckung befreiender und lernender Liebe.

5. Die Ausweglosigkeit auswechselbarer Beziehungen
(150-171). In der Einleitung weist Leist darauf hin, daß in
den meisten der in diesem Abschnitt zusammengesellten Berichte
die Liebe leer ausgeht und die Promiskuität durchaus
nicht zur Überwindung von „unbewältigter Geschlechtsangst
und Feindschaft" beiträgt: „Es ist das geschlechtliche Verhalten
, in dem der eigentliche Sinn geschlechtlichen Verlangens
unterdrückt (wird) oder abgespalten .nebenher' läuft. Der
Sinn der geschlechtlichen Gemeinschaft und der Lust ist und
bleibt die wesenhafte Liebe, auch wenn Ungezählte dazu
nicht fähig sind. Die Berichte zeigen deutlich, wie sehr in
diesen Beziehungen nach Bleiben und nach Liebe gesucht
wird" (151).

6. Die widersprüchliche Gestalt der Ehe (172-207). „Wo
der Dialog verkümmert, muß auch die Ehe verkümmern
und zerfallen. Ehe als Dialog - das ist das Bild der biblischen
Ehe ..." <172) heißt es in der Einleitung. Die Briefe
zeigen das Widersprüchliche in heutigen Ehen, aber doch
auch die 'Erfahrung glückender Liebe.

7. Von der verschwiegenen Not unter Priestern (208-237).
Sechs jüngere Priester berichten hier vom „Kampf voller