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Ausgabe:

1973

Spalte:

851-853

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Kruse, Martin

Titel/Untertitel:

Speners Kritik am landesherrlichen Kirchenregiment und ihre Vorgeschichte 1973

Rezensent:

Obst, Helmut

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Theologische Literaturzeitung 98. Jahrgang 1973 Nr. 11

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der Hauptintention in der Arbeit von Herrmann Timm unterscheidet
(Theorie und Praxis in der Theologie Albrecht
Ritschis und Wilhelm Herrmanns 1967). In der Tat hat Nicolaisen
bei Timm viel gelernt, das gibt er auch zu (S. 16f).
Neu bei Nicolaisen ist die christologische Verankerung der
„Sozialdogmatik" (S. 20f).

Überhaupt hat Nicolaisen Schwierigkeiten mit der Profilierung
seiner Arbeit den neuesten Vorgängern gegenüber.
Das gilt nicht nur seiner Beziehung zu Herrmann Timm,
auch aus der 'bekannten Schrift von Rolf Schäfer hat Nicolaisen
viel geholt (Grundlinien eines fast verschollenen dogmatischen
Systems 1968) (S. 128f bei Nicolaisen ist in dieser
Hinsicht aufschlußreich).

•Für die weitere Arbeit wäre es sehr wichtig, wenn Nicolaisen
eine vergleichende Studie durchführen könnte.
Es gibt so viele Theologen, die die Kombination von Chri-
stologie und Soziallehren durchgeführt haben, daß es notwendig
ist, näher zu präzisieren, w i e die Kombination bei
Albrecht Ritsehl und später bei seinen Nachfolgern ausgesehen
hat. Da nun Nicolaisen Ritsehl als einen „lutherischen
Theologen" bezeichnet (S. 128), wäre ein Vergleich mit einem
Reformierten vielleicht hier am Platze. Jedenfalls muß
Nicolaisen in der kommenden größeren Arbeit die Linien
schärfer ziehen, als er sie bis jetzt gezogen hat.

Lund Gustaf Wingren

Kruse, Martin: Speners Kritik am landesherrlichen Kirchenregiment
und ihre Vorgeschichte. Witten: Luther-Verlag
1971. 205 S. gr. 8° = Arbeiten zur Geschichte des Pietismus
, hrsg. v. K. Aland, E. Peschke u. M. Schmidt im Auftrag
der historischen Kommission zur Erforschung des
Pietismus, 10. Lw. DM 33,-.

Mit dem Pietismus erreichte die Kritik am landesherrlichen
Kirchenregiment einen vorläufigen Höhe- und Wendepunkt
. Entstehung, Motivierung und Ausprägung dieser in
den Ansätzen auf Luther selbst zurückgehenden kritischen
Traditionen sind trotz vielseitiger aktueller Relevanz bis
heute weitgehend unerforscht. Die vorliegende Untersuchung
stößt deshalb in wesentlichen Partien in wissenschaftliches
Neuland vor. Das ist besonders zu beachten! Sie enthält
mehr, als in dem nicht ganz glücklich gewählten Titel angedeutet
ist. Der weitaus größte Teil der Arbeit (vier Kapitel,
128 S.) beschäftigt sich mit der Vorgeschichte der Spenerschen
Kritik am landesherrlichen Kirchenregiment, die ihrerseits
nur relativ kurz (ein Kapitel, 33 S.) dargestellt wird. Doch
ist die Untersuchung der Vorgeschichte an den Gesichtspunkten
orientiert, die sich aus der Spenerforschung ergeben
.

.Der Vorwurf der Caesaropapie in der lutherischen Kirche
vor Spener" (Kap. II, S. 48-81) wird nach recht instruktiven
Ausführungen „Zur Traditionsgeschichte des Schemas
,Papocaesaria/Caesaropapia'" (S. 48-53) und über „Luther
als Prophet des .Kaiserlichen Papsttums" (S. 53-57) an drei,
das Luthertum des 16. Jh.s bewegenden Auseinandersetzungen
(Kampf der Jenenser Theologen, 1560-1561; Magdeburger
, 1562-1564, und Augsburger, 1582-1589, Streitigkeiten
um das ius vocationis) belegt. Der Vf. erschließt in diesem
Zusammenhang auch neues Quellenmaterial. Er versucht
, „die historische Tiefendimension der Bedenken . . .,
wie sie bei Spener begegnet sind, aufzudecken" (S. 81).

Die folgenden Kapitel (III-V) wollen „drei systematische
Modelle umreißen, die auf Spener eingewirkt haben" (ebd.).
Ausgehend von sachlich-biographischen Hinweisen Speners,
die sorgfältig belegt werden, stellt der Vf. drei nach Herkommen
, Anliegen und theologischer Prägung recht unterschiedliche
Persönlichkeiten vor: Johann Valentin Andrea,
„eine eigenartige Gestalt des Übergangs, die offenbar in
keinem Lager wirklich zu Hause ist" (S. 117); den Theologieprofessor
Johann Conrad Dannhauer, Speners Straßburger
Lehrer; den mystischen Spiritualisten Christian Ho-
burg. Diese Spezialuntersuchungen zeichnen sich u. a. durch
solide Aufarbeitung des umfangreichen Quellenmaterials,
originalgetreue Wiedergabe der Zitate sowie durch weiterführende
Anmerkungen aus. Ihr Beitrag zur Andreä- und
Dannhauerforschung, die leider immer noch vernachlässigt
sind, ist bedeutend. Das trifft zum Teil auch für die Ho-
burgforschung zu. Die Ergebnisse der Einzeluntersuchungen
werden am Schluß jedes Kapitels wiedergegeben, den Gesamtertrag
stellt der Vf. am Schluß des Werkes (S. 174-176)
zusammen. Wesentliche Ergebnisse, das bringt die Anlage
der Arbeit mit sich, mußten jedoch schon im 1. Kapitel
(S. 15-47), das dem Werk den Titel gab, andeutungsweise
vorweggenommen werden.

Das spricht nicht gegen die sachliche Berechtigung der
Gesamtgliederung. Ausgangspunkt ist Speners Kritik am landesherrlichen
Kirchenregiment in seinen Pia Desideria
(1675). Spener knüpft bewußt an die Obrigkeitskritik der
lutherischen Orthodoxie des 16. und 17. Jh.s an, die auf die
„Prophezeiungen" Luthers vom kommenden kaiserlichen
Papsttum zurückgeht. Im Unterschied zu Andreä und Dannhauer
- die Differenzen zu letzterem werden im einzelnen
aufgeführt (S. 139f) - sowie zur orthodoxen Tradition, die
Reformen mit Hilfe der Obrigkeit durchführen wollen, geht
Spener andere Wege. In seinen Pia Desideria, mit denen er
die „Initialzündung" für eine umfassende Kirchen- und Gesellschaftsreform
geben wollte, verzichtet er auf die aktive
Mitwirkung der Obrigkeiten (Plural!). Sein Schweigen über
ihre Rolle bei den angestrebten Reformen ist also nicht Zufall
, sondern Absicht (S. 16f). Diese These kann der Vf.
überzeugend belegen. Die Analyse des Obrigkeitsverständnisses
und der Reformanliegen Speners auf dem Hintergrund
seines Kirchenbegriffes bestätigen die in der neueren
Spenerforschung verschiedentlich hervorgehobene Erkenntnis
, daß in Speners Glaubens- und Wiedergoburtsvcrständ-
nis der Schlüssel für seine theologische Konzeption und
seine kirchenpolitische Wirksamkeit zu sehen ist. Speners
Kritik am landesherrlichen Kirchenregiment kommt von
daher innerhalb seiner Gesamtkonzeption nur eine „Hilfsfunktion
" zu.

Der Versuch, einen Weg zwischen Caesaropapie und Papo-
caesarie zu finden, führte ihn angesichts der Zeitverhältnisse
zunehmend in eine Aporie. Die ständig wachsende Inanspruchnahme
seiner weitreichenden Verbindungen zugunsten
der pietistischen Sache, der massive Rückgriff auf
staatliche Machtmittel stehen offenbar im direkten Gegensatz
zu den in den Pia Desideria proklamierten Zielen. Bereits
seine orthodoxen Gegner, in klassischer Weise Samuel
Schwelwig, haben den Vorwurf der „Inkonsequenz im praktischen
Verhalten" erhaben. Der Vf. geht dieser Problematik
am Beispiel des „Hamburger Streites (1690)" und der
„Leipziger Inquisition (1693)" nach. Eine etwas breitere
Beschäftigung mit Speners Einflußnahme auf den Berliner
Hof (C. H. v. Canstein - A. H. Francke) wäre hier von Gewinn
gewesen. Zu den bemerkenswertesten Ergebnissen
der Arbeit gehört, daß der Vf. schließlich zu der These
gelangt, von Speners Grundanliegen her sei „die Inkonsequenz
seines Handelns in ihrer Weise konsequent gewesen"
(S. 45). Wohl habe er einen Frontwechsel vollzogen, indem
er je länger je mehr die entscheidende Gefährdung seines
Reformwerkes in der Papocaesarie der Orthodoxie, nicht
in der Caesaropapie des Staates erkannte und die Kirche
unter den speziellen Bedingungen Brandenburg-Preußens
in den überkonfessionellen Staat einzubauen versuchte,
doch könne man hier nur von einer vordergründigen Inkonsequenz
sprechen.

Im Hintergrund des Wechsels in der Taktik zur Erreichung
des alten Zieles steht - das machen die Spezialuntersuchungen
im Kapitel II-V deutlich - eine Abkehr von der
orthodoxen Tradition der Kritik am landesherrlichen Kirchenregiment
und eine verstärkte Aufnahme mystisch-spi-