Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1973

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Titel/Untertitel:

Neuerscheinungen

Ansicht Scan:

Seite 1

Download Scan:

PDF

779

Theologische Literaturzeitung 98. Jahrgang 1973 Nr. 10

780

von einer Furcht vor radikalen Änderungen der Eigentumsverhältnisse
her. So stand der Protestantismus in allen
Bindungen zum herrschenden System und nahm mit ihm
Partei, wurde durch den Aufstieg von Materialismus und
Sozialismus in die Defensive gedrängt und trat der fortschrittlichen
Entwicklung mit Existenzangst gegenüber.
Man wollte nicht sehen, daß das Bündnis mit den Herrschenden
die Arbeiterschaft aus der Kirche vertrieben hatte, und
die offizielle Kirche zog aus alledem nur die Konsequenz,
daß die Bevolution die Mutter allen Übels sei (S. 209).

Ansätze einer Mitverantwortung, eines gesellschaftlichen
Engagements, waren nur bei den Liberalen und zum Teil
der Vermittlungstheologie zu finden. Letztere klagten in den
Bevolutionsjahren die Christen wegen ihrer politischen
Trägheit an, durch die sie Schuld auf sich geladen hätten
(S. 93). Aus liberalen Kreisen wurde angesichts des Bußaufrufes
des Wittenberger Kirchentages 1848 geäußert:
Worauf es nun ankomme, sei nicht die demütigende, sondern
die erhebende Kraft der Beligion, sie könnte einen Weg
bahnen (S 113). Die Liberalen hatten nie daran gezweifelt,
daß der Mensch für die Gestalt der politischen Ordnung
verantwortlich sei, daß es sich dabei nicht um unabänderliche
göttliche Anordnungen handele (S. 123). Dennoch
lehnten auch die meisten von ihnen eine gesellschaftliche,
d. h. nicht auf einem öffentlichen Amt beruhende Mitverantwortung
ab. Änderungen der politischen Ordnung
sollten nur im Einvernehmen mit der Obrigkeit erfolgen
(S. 203); das bedeutete letztlich Anpassung an die Bis-
marcksche Machtpolitik (S. 206). Für die Konservativen und
viele Vermittlungstheologen bedeutete von vornherein jedes
bewußte Planen und Gestalten im staatlichen Bereich Auflehnung
gegen Gott (S. 209). Somit stimmte letztlich der
deutsche Protestantismus in jenen Jahren darin überein, daß
die politischen Probleme auf geistiger Ebene bewältigt
werden müßten. Dazu behinderte die typische Vermengung
theologischer und politischer Urteile ein angemessenes
Verständnis der aktuellen Verfassungsfragen. Im Grunde
bedeutete das den Verzicht auf eigene theoretische Überlegungen
zugunsten der „Bealpolitik". Zilleßcn stimmt hier
dem Ergebnis zu, daß Engels als allgemeine Tendenz der
Entwicklung in Deutschland nach 1848 bezeichnet (S. 222).

Horst Zilleßcn hat seine Abhandlung vor allem für
Protestanten in der BBD verfaßt. Wir hätten manche
Fragen, etwa nach den sozialen und ökonomischen Ursachen,
gerne erwas mehr vertieft gesehen — soweit es das untersuchte
Material überhaupt zeigen konnte. Auch die starke
Betonung der Formalinstitution hätte vielleicht durch
Untersuchungen des tatsächlichen Herrschaftsmechanismus
ergänzt werden können. Dennoch ist die vorgelegte Arbeil
auch für unsere Leser von großem Interesse. Die Bemühungen
im Bund der Evangelischen Kirchen in der Deutschen
Demokralischen Bepublik um den Standort der Kirche und
das gesellschaftliche Engagement der Christen in der
sozialistischen Gesellschaft machen auch eine Auseinandersetzung
mit dem Versagen des deutschen Protestantismus
in der 2. Hälfte des 19. Jh.s notwendig. Gerade auch allen,
die in dieser Aufgabe mitdenken, wird das vorgelegte Werk
warm empfohlen.

Berlin Manfred Stolpe

Artz, Johannes: Kardinal Newmans bleibende Bedeutung
(Erbe und Auftrag 48, 1972 S. 180-193).

Biemer, Günter: Die Bedeutung der Taufe in ihrer genetischen
Entfaltung bei John Henry Newman, in:
Zeichen des Glaubens. FS Balthasar Fischer, hrsg. V. II.
auf der Maur und B. Kleinhcyer. Zürich-Freiburg:
Benzinger/Herder 1972 S. 137-153.

Kentigern Connelly, J. M.: „An Unheard of Thing". An
Historical Study of the Apostolic Letter of Pope Leo XIII
Ad Anglos, April, 1895 (Bijdragen 33, 1972 S. 65-88).

Mohr, Budolf: Zur Frömmigkeit Sebastian Francks (DtPfrBl

72, 1972 S. 856-861).
Basmussen, Larry: Daniel Berrigan and Dietrich Bonhoeffer:

Parallels and Contrasts in Besistance (Dialog 11, 1972

S. 264-272).

Bousseau, Olivier: L'avenir et le passe du monachisme. A
propos d'un centenaire: Maredsous 1872 — 1972 (NBTh 94,
1972 S. 604-619).

Zeller, Winfried: Die kirchengeschichtliche Sicht des
Mönchtums im Protestantismus, insbesondere bei Gerhard
Tersteegen (Erbe und Auftrag 49, 1973 S. 17-30).

PHILOSOPHIE,
RELIGIONSPHILOSOPHIE

Weischedel, Wilhelm: Der Gott der Philosophen. Grundlegung
einer philosophischen Theologie im Zeitalter des
Nihilismus. II: Abgrenzung und Grundlegung. Darmstadt:
Wissenschaftliche Buchgesellschaft in Zusammenarbeit
mit der Nymphenburger Verlagshandlung, München 1972.
X, 277 S. 8°.

Dieser II. Band des im Blick auf den I. Band schon
ThLZ 97, 1972 Sp. 932 besprochenen Werkes (vgl. auch
ThLZ 91, 1966 Sp. 538-540 sowie ThLZ 98, 1973 Sp.
200 — 202) setzt die Durchmusterung philosophiebezogener
Theologie bzw. theologieoffener Philosophie mit der Besprechung
ausgewählter Konzeptionen der Gegenwart fort.
Es sind dies Entwürfe, Programme und Systeme von Barth,
Gollwitzer, Bultmann, Ebeling, der katholischen natürlichen
Theologie heute, besonders bei Bahner, ferner von Pannenberg
, Tillich, Scheler, Jaspers und Gerhard Krüger. Sic alle
werden nach dem bereits im I. Band aufgestellten und angewendeten
Kanon durchgegangen: ob sie jener Vernunft
standhalten, die keinerlei unbewiesene Voraussetzungen
duldet. Sie alle scheitern an diesem Kanon und werden der
Zirkelhaftigkcit in ihrer Argumentation überführt. — Es
kann gewiß lehrreich sein, daß auf diese, allmählich allerdings
etwas monoton anmutende und kaum einen der genannten
Denker in seinem Gesamtwerk vorstellenden Weise noch
einmal die Illusion zerstört wird, daß es einen logisch
zwingend beweisbaren Gottesglauben gebe. Aber wem gegenüber
bedarf es dieses Beweises, zumal fast alle der zitierten
Denker die Unbeweisbarkeit ihrer natürlichen Theologie'
selber zugeben oder beteuern? Immer wieder erscheinI Im
W. der Glaube als logisch unzureichend begründetes Wissen
(bspw. zu Jaspers: „Alles liegt also daran, zu sehen, ob er
seine Erfahrungen des Geschenktseins und Gegebenseins, des
Entgegenkommens und Aufgefangenwerdens verbindlich zu
begründen vermag. . . . Hier steht das Bewußtsein, daß es
eine Transzendenz gibt, grundsätzlich auf der gleichen Ebene
wie irgendwelche Illusionen", S. 135 und 139). — Sähe man
im Gegensatz hierzu Glaube als Entscheidung angesichts
einer Ambivalenz von mehreren rational bzw. logisch gleichberechtigten
Lebenseinstellungen (theoretisch wie praktisch),
dann könnte ein entsprechendes Darstellen des Glaubens auf
dem Hintergrund seiner Alternativen eine vielleicht interessantere
Geschichte des Verhältnisses von ,Glauben und
Wissen' an die Hand geben. Weischedel selbst könnte sie
veraidassen, da er jede Konzeption in den Strudel der
Fraglichkeit hineinzieht und damit, ungewollt, das Problem
und die Situation der Mehrfachlösungen, wovor der Glaube
als dem Wissen steht, deutlich werden läßt (s. bspw. S. 77,
80, 151). W. zieht für sich hieraus allerdings eine andere
Konsequenz: den Verzicht auf jede Entscheidung — bzw.
die Entscheidung für jeden Verzicht, (als sog. ,offenen
Nihilismus statt des dogmatischen Nihilismus', S. 160ff.). Das
mag ihm persönlich und für seine Umwelt, die indes nicht
die Welt und nicht das „Zeitalter" ist, unbenommen sein.