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Ausgabe:

1973

Spalte:

776-779

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Zilleßen, Horst

Titel/Untertitel:

Protestantismus und politische Form 1973

Rezensent:

Stolpe, Manfred

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Theologische Literaturzeitung 98. Jahrgang 1973 Nr. 10

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Inhalte Anstöße und Impulse, die in den folgenden Jahrzehnten
,,to an intensive and widespread concentration on
the question of tlie historical object of faith, Jesus Christ"
(141) führten. Welch räumt ein, daß es noch andere tiefgreifende
Probleme und Tendenzen gab, und muß diesem
Tatbestand hinsichtlich der Ekklesiologic, die sich der
leitenden Fragestellung teilweise nur in einem sehr weiten
Sinn anpassen laßt, auch Rechnung tragen. Da sie jedoch
der christologischen Fragestellung immer bei- und untergeordnet
ist (145), sprengt dieser Sachverhalt nicht das
Schema. Auch die Christologie ist dem eigentlichen Haupt-
thema, der Auseinandersetzung und dem Kampf „against the
threatening dissolution of the Substance of Christian Faith"
verbunden, „a danger at Icast as evident in social and
political currents as in scientific and philosophical deve-
lopment" (143). Die historisch-kritischen Fragestellungen,
von Strauß auf das „Leben Jesu", von F. C. Baur auf
Urchristentum und Dogmcnbildung bezogen (1471T), taten in
England und den USA ihre Wirkungen erst einige Jahrzehnte
später. In England konnten erst die „Essays and
Reviews" von 1860 die „Verschwörung des Schweigens"
(168) durchbrechen. Also auch hier Phasenverschiebung.
Stärkere prinzipielle Gleichartigkeit zeigte sich in der
Jahrhundertmitte in den drei geographischen Großräumen
einmal innerhalb des Problcmkreises „Humanism, Religion,
and Culture" (170ff), sodann in den „Strategies for Restora-
tion and Conservation" (190ff). Während in Deutschland
L. Feuerbach eine radikale Destruktion des Christentums
vornahm und, gerade auch in der Auseinandersetzung mit der
Gestalt Jesu Christi, dafür den Menschen entdeckte — ein Vorgang
, dem Welch durchaus positive Momente im Sinne anthropologischer
Selbstvergewisserung abgewinnen kann (177) —,
lief die Entwicklung in England und den USA eher in Richtung
einer Humanisierung der Religion. Das wird gezeigt an
R. W. Emerson, der die unitarische Linie von der Gutheit
des Menschen in rationalistisch-mystischer Synthese zu
seiner Göttlichkeit auszog (177ff), am Prozeß der Umformung
eines vulgären Utilitarismus (Bentham) zu einem
religiösen bei J. S. Mill, am Verständnis von Kirche und
Religion «ls Faktoren ethischer Evolution (Th. und M.
Arnold) und schließlich an Carlyles Hcroenkult. Der Hinweis
auf A. Comte versucht diesen Vorgang als einen Prozeß
neuer nicht nur individueller, sondern gesamtgesellschaftlicher
Sinndeutung zu veranschaulichen (183ff). Die re-
pristinatorisch-restaurative Gegenbewegung in Deutschland
hatte ihr Seitenstück in der Princeton Theologie; in England
in einer Gestalt wie Liddon, der zum Postulat der absoluten
üivinität Jesu Christi seine Zuflucht nahm (204ff). Das
Streben nach Verobjektivierung des Christentums nach einer
Phase idealistisch-spekulativer Konstruktionen und sub-
jektivistisch-humanitärer Aushöhlung wird am „Struggle for
Creative Theologics of the Churchs" dargestellt (Newman
und die Oxford-Bewegung, die Erlangcr Theologie, die
Mercersburg-Theologie). Der biblische Bcalismus eines J. T.
I3eck (198ff) wird in die Gesamtbewegung von Konfessionalismus
und Repristination eingebracht, nicht ohne die
Außenseiterrolle Becks hervorzuheben. Die Kcnosis-Christo-
logie (233ff) erscheint als Versuch, einerseits an die Tradition
(Zwei-Naturen-Lehre) festzuhalten, andererseits aber das
Humanuni in Christus zu würdigen und die kritischen
Fragestellungen aufzuarbeiten. F. D. Maurice und H.
Bushncll werden unter der Überschrift „Toward a Chritical
Orlhodoxy" vorgestellt (241ff). Maurice, orthodox in seinem
Christozcntrismus, kritisch in seinem Respekt vor Autorität
und Schrift, zutiefst durchdrungen von der „Partialität"
menschlichen Wahrheitsanspruchs, wird besonders mit
seinem Hauptwerk „Kingdom of Christ" gewürdigt. Welch
konstatiert hier interessante Parallelen zur Zweiten-Adam-
Christologie (249). In seiner Systemfurcht ähnelte Maurice
Bushncll. Beide sind in ihrem theologischen Stil eher „folk
theologians" (243), ein Eindruck, der bei Maurice durch sein
starkes sozialreformerisches Engagement verstärkt wird. Der

Gesichtspunkt der Partialität und somit Relativität menschlichen
Wahrheitsbewußlseins begegnet bei Bushncll in
seiner Neufassung der religiösen Sprache als „figurativ"i
und in der Schärfung der Erkenntnis, daß sie immer nur
Ausdruck von Gefühl und Subjektivität, der persönlichen
Erfahrung dessen, der sie braucht, ist (260). Auch die Bibel
gibt nur Symbole und kein System einer wissenschaftlichen
Theologie. Bushnells Reflcktionen über Trinität und Inkarnation
sieht Welch in einer gewissen Parallele zu Thomasius
und Dorner. Als markante Vertreter von „Mediation,
Spcculation, and Critizism" werden üorner und Rothe
behandelt (269ff) und so noch einmal das für die deutsche
Entwicklung kennzeichnende Ringen um Vermittlung der
das Jahrhundert prägenden Gegensätze bzw. um (eine
nochmalige) große spekulative Schau vorgeführt. Am Schluß
des Buches, und hier wird das geographische Prinzip um der
theologischen Sachlogik willen durchbrochen, steht Kierkegaard
(292ff). In ihm sieht Welch die zentralen Probleme
der Jahrhundertmitte in einem christozentrisch-subjekti-
vistischen Rahmen sich zusammenballen. Daß Kierkegaard
so nachdrücklich in den geschichtlichen Kontext gestellt
wird, hilft ihn gegen kurzschlüssige aktualislisch-cxislcii/-
philosophischc Interpretationen zu schützen, wie sie oft
genug vorgenommen wurden. Auch hier bewährt sich, wie
im ganzen Buch, der historische Sinn des Autors und sein
geschichtliches Einfühlungsvermögen.

Die Studie kann die intensive Gründlichkeit nationale!
Theologiegeschichten nicht ersetzen, hat dafür aber extensive
Multinationalst in die Waagschale zu werfen. Für den
deutschen Leser besteht der Wert des Buches u. a. darin,
daß er mit Denkern und Kirchenmännern bekannt gemacht
wird, die bei uns zum Teil so unbeachtet geblieben sind,
daß man sie in den gängigen Nachschlagewerken vergeblich
suchen wird. Neben reicher Belehrung über Gestalten der
englischen und nordamerikanischen Theologie- und Kirchengeschichte
vermittelt die Studie Denkanstöße, die dazu
führen könnten, sich verstärkt der systematischen Zusammenschau
des internationalen protestantischen Erbes
zu widmen. Dabei gewonnene Leitlinien — bei Welch
scheinen sie stark von den deutschen Verhältnissen her
geprägt — werden sich freilich an der Gesamtheit des
Materials, also auch des von Welch nicht berücksichtigt1 ■".
immer wieder neu überprüfen lassen müssen. Erst dann
werden auch gültige Antworten auf die Frage möglich sein,
wie es um ihre „Wirklichkeit" als Epochentrends bestellt ist.

Resümee: Eine große Aufgabe wurde in Angriff genommen
. Ein interessanter Beitrag zu einer ..universalen" Theo-
logiegeschichte.

Einige Druckfehler: Seite 65, 160, 180, 193, 199, 219, 221
223, 226f., 270.

Leipzig Kurt Nowak

/.Hießen. Hont: Protestantismus und politische Form. Eine
Untersuchung zum protestantischen Verfassungsverständ-
nis. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus G. Mohn [1971]-
254 S. gr. 8°. Lw. DM 28,-.

Horst Zilleßcn untersucht die Haltung des deutschen
Protestantismus zu aktuellen gesellschaftspolitischen Frage'1
in den für die weitere Entwicklung bedeutsamen Jahren
1848-1850 und 1862-1866. Als Material dienen ihm vor
allem die in jenen Jahren verbreiteten Kirchenzeitungen.
Die kirchlichen Meinungen gruppiert der Vf. nach de°
Konservativen, der Vermittlungstheologie und den Liberalen
. Im Mittelpunkt seines Interesses steht das Ver-
fassungsverständnis der Protestanten in den Auseinandersetzungen
der Revolutionsjahre und des preußischen Verfassungskonfliktes
. Dabei geht es Zilleßen nicht nur um 'I11'
Aufarbeitung historischer Unterlagen, sondern um die Auswirkungen
bis in die Gegenwart. Als Ergebnis stellt er die
Unterschätzung und Mißachtung der Verfassungsfrngen
durch den deutschen Protestantismus heraus. Sein Ziel >st