Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1973

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Titel/Untertitel:

Neuerscheinungen

Ansicht Scan:

Seite 1

Download Scan:

PDF

771

Theologische Literaturzeitung 98. Jahrgang 1973 Nr. 10

772

alität des Themas bedarf keiner Betonung, und mit den
abschließend vom Autor formulierten Thesen zu einem
derzeit viel diskutierten Problem wird sich der katholische
Theologe auseinanderzusetzen haben. Für den Historiker,
und als solcher will sich auch Tierney verstanden wissen,
liegt der Wert der Arbeit bereits in der Feststellung der
Fakten und dem daraus resultierenden Geschichtsbild. Gleich
vorweg soll das Ergebnis der Untersuchung resümiert
werden: Weder war die päpstliche Infallibilität explizit oder
auch nur implizit zu allen Zeiten die feste Glaubensüberzeugung
des Katholizismus, wie man auf Grund ihrer
Uogmatisierung 1870 vermuten könnte, noch entsprang sie
dem Bemühen mittelalterlicher Kanonisten oder Theologen
um eine Stärkung der Autorität des Papsttums. Sie verdankt
ihr Aufkommen vielmehr einer konkreten historischen
Situation, nämlich dem Armutsstreit im Franziskanerorden
vor allem zur Zeit jenes Papstes Johannes XXII., der
bekanntlich früheren päpstlichen Entscheidungen in dieser
Angelegenheit widersprach und sich dadurch sowohl Spiri-
tualen als auch Convcntualen zum Feinde machte. So finden
sich die ersten entscheidenden Äußerungen zugunsten der
päpstlichen Infallibilität paradoxerweise gerade bei papstfeindlichen
Autoren. Die franziskanisch beeinflußte Sachsenhäuser
Appellation Ludwigs des Bayern von 1324 erscheint
als epochales Datum: ,,. . . from 1324 onward the idea that
the pope might be personally infallible was never altogcther
absent from catholic ecclesiology" (186).

Tierney befaßt sich zunächst mit der Lehre der Kanonisten
über das Verhältnis von Schrift, Tradition, Konzil und
päpstlicher Gewalt, wobei auch der Fall eines häretischen
Papstes am Beispiel nicht der berühmten Causa Honorii,
sondern des dem Mittelalter besser bekannten Anastasius II.
erörtert wird. Es ergibt sich, daß sowohl die Irrtumsfähigkeit
eines Papstes als auch die Reformabilität römischer Dekrete
angenommen wurde, da man nicht für die päpstliche Infallibilität
, sondern für die päpstliche Souveränität eintrat.

Das zweite Kapitel führt bereits zu den Schwierigkeiten
bei den Minor!ton bezüglich der Armutsfragc und der daraus
notwendig resultierenden Kooperation mit dem Papsttum.
Nach dem Hinweis auf joachitische Einflüsse im Orden und
auf die Bedeutung der Bulle „Quo elongati" Gregors IX.
von 1230 steht der Ordensgeneral Bonaventura im Mittelpunkt
der Untersuchung. Für ihn war zwar das Papsttum
die Spitze der eines Irrtums unfähigen Kirche, doch hat er
daraus keineswegs, wie gelegentlich behauptet wurde, entsprechende
Konsequenzen für die Infallibilität des Papstes
gezogen. Das geschah erst bei dem im dritten Kapitel
behandelten Franziskanerspiritualen Petrus Olivi und in
dessen freilich erst in moderner Zeit so benannten und unter
diesem Titel 1949 von M. Maccarrone edierten „Quaestio
de infallibilitate Romani pontiücis" aus der Zeit knapp nach
Erlaß der Bulle „Exiit qui seminat" Nikolaus' III. von 1279,
an deren Zustandekommen Olivi nicht ganz unbeteiligt war,
und durch sie veranlaßt, wie Tierney gegen die auf die
Griechenunion verweisende These von Maccarrone darlegt.
Olivis energisches Eintreten für die päpstliche Infallibilität
erklärt sich laut Tierncy wiederum nicht ohne Paradoxie aus
seiner joachitisch-pcssimistischen Erwartung eines Pscudo-
papstes, dem gegenüber die für die Franziskaner so günstige
Entscheidung Nikaulaos' III. in ihrer unumstößlichen
Gültigkeit mit dem Argument gesichert werden sollte, ein
„verus papa" könne nicht irren. Olivi ist bekanntlich wegen
seiner Armutslehre und noch mehr wegen seiner Eschatologie
sowohl mit seinem Orden als auch mit der Kirchenleitung
in Konffikt geraten und gar verurteilt worden, was verständlich
macht, daß seine Ansichten nicht entsprechend
wirken konnten. Von Olivis Zeitgenossen und aus der
folgenden Generation bespricht Tierney im nächsten
Kapitel — was hier nur, zur Information mitgeteilt sei —
Heinrich von Gent, Duns Scotus, Herveus Natalis, Petrus
de Palude, Jean Quidort, Wilhelm Durandus den Jüngeren,
Marsilius von Padua, Richard von Middletown, Wilhelm

Peter de Godin und den fälschlich Duns Scotus zugeschriebenen
franziskanischen Traktat „De perfectione
statuum" im Hinblick auf Meinungsäußerungen zu Schrift
und Tradition, Kirche, Papst und Konzil.

Dann gilt die Aufmerksamkeit den schon erwähnten
Auseinandersetzungen Johannes' XXII. mit den Minoriten,
die mit dem Versuch einer Disziplinierung der Spiritualen
begannen und zuletzt selbst den früher mit dem Papste
durchaus zusammenarbeitenden General Michael von Cesena
unter dessen Gegner sah, als Johann die doktrinelle Basis
des Ordens angriff, die Lehre von der päpstlichen Infallibilität
als Neuerung verwarf und das Schriftprinzip als Norm
anerkannte. Besser wurde der als Häretiker bezichtigte
Papst, selbst weniger theologisch als juridisch interessiert,
auf Grund kanonistischer Tradition von den zeitgenössischen
Juristen wie etwa Zenzellinus verstanden. Daü nicht nur die
politischen Ereignisse jener Tage, sondern ebenso der Papst
im neuen Licht erscheinen, bedarf keiner weiteren Betonung.

In den letzten beiden Kapiteln seines Buches stellt Tierney
den Minoriten Wilhelm von Ockham als Vertreter einer
„antipapal infallibility" dem Karmeliter Guido Terreni als
Propagalor der „propapal infallibility" gegenüber. Daß
erster die Infallibilität eines echten Papstes trotz gleichzeitiger
Angriffe auf den regierenden Johannes XXII. nicht
ohne gedankliche Schwierigkeiten lehrte, wird gegen bestehende
Anschauungen bewiesen. Ebenso konnte gezeigt
werden, wie der sich fälschlich auch auf Thomas von Aquin
berufende Guido etwa in der Unterscheidung von persönlicher
Irrtumsfähigkeit und der Infallibilität offizieller
päpstlicher Definitionen moderner Lehre vorgebaut hat.

Bei einer so viele Paradoxien aufdeckenden Untersuchung
wird man sehr genau die herangezogenen Quellen überprüfen
müssen, ehe man vorbehaltlos den so einleuchtend
vorgetragenen Argumenten zustimmt. Dies Beginnen stellt
sich freilich schwieriger dar, als man zunächst annimmt, und
zwar vor allem deswegen, weil der Ausdruck Infallibilitäl
seltener vorkommt als eine Umschreibung des gemeinten
Sachverhaltes. So ist auch Tierney genötigt, andere Begriffe
in die Untersuchung einzubezichen und von seinem eigentlichen
Thema zum größeren Bereich der Ekklesiologic der
von ihm untersuchten Zeitepoche und ihrer Autoren überzugehen
. Seine Arbeit hat dadurch nur an Wert gewonnen,
sicher sowohl für den katholischen Theologen als auch für
den evangelischen Historiker.

Saarbrücken Hamid Zimmermann

Dykmans, Marc: Le Ceremonial de Gregoire X (vers 1273)

(Gregorianum 53, 1972 S. 535-505).
Hallinger, Kassius: Zur Rechtsgeschichte der Abtei Gorze

bei Metz (vor 750-1572) (ZKG 83, 1972 S, 325-350).
Niedermeier, Hans: Eine bisher unbeachtete Tabula zu den

Werken des hl. Thomas von Aquin (Erbe und Auftrag

48,

1972 S. 372-389).
Pfaff, Maurus: Abt Wilhelm von Hirsau (Erbe und Auftrag

48, 1972 S. 83-94).
-Bisehof Wolfgang von Regensburg, 972-1972 (Erbe und

Auftrag 48, 1972 S. 429-434).
Su lla, P. T.: Giovanni Regina <li Napoli, 0. E., e la tesi

di Giovanni XXII circa la visione beatifica (Salesianun>

35, 1973 8. 53-99).

KIRCHENGESCHICHTE: NEUZEIT

Welch, Claude: Protestant Thought in the Ninetcenth
Century, Vol. I: 1799-1870. New Häven - London:
Yale Universily Press 1972. X, 325 S. gr. 8°.
Die Anfänge dieses Werkes liegen fast fünfundzwanzig

Jahre zurück. Damals begann Welch Vorlesungen über