Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1973

Spalte:

754-755

Kategorie:

Neues Testament

Titel/Untertitel:

Marcus-Evangelium 1973

Rezensent:

Kümmel, Werner Georg

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

753

Theologische Literaturzeilung 98. Jahrgang 1973 Nr. 10

754

legende Unterweisung an die ganze Kirche und für alle
Bckehrungswilligcn" (384), die die nova lex Jesu, das Liebcs-
gebot enthält, wie auch „das neue Brauchtum" auf ihn
zurückgeführt wird (297). In dieser konsequent ckklcsio-
logischen Auslegung, für die wir nur einige Beispiele anführten
, verdient das Bemühen um das Verständnis des
Wortes Gottes besondere Beachtung. In ihm wird als in
einer Wort-Offenbarung personal zugesprochen, was sich
ereignet (24, 107). Das Wort hat „kirchenkonstitutive
Funktion" (457), wirkt „familiarisicrcnd" (471) und tritt in
einet vorkirchlichen missionarischen Gestalt wie als kirchliche
Unterweisung auf (Gleichnis und Gleichnisdeutung). Die
Bedeutung, die der Worttheologie eingeräumt wird, ist
bemerkenswert und wesentlich.

Insgesamt stellen wir unsere Frage an Schürmann so: Wie
verhält sich die charismatische nichtinstitutionaliserle
Vollmacht Jesu, die zugleich Freiheit und innere Mächligkeil
■st, und die seiner Boten zur institutionalisierten Amtsverfassung
und Lebensordnung der in der Kirche zusammengefaßten
und organisierten Christenheit? Daß die Entwicklung
dahin eine geschichtliche Notwendigkeit wurde,
wird man sehen müssen; aber daß sie Entfaltung einer in
der Geschichte Jesu vorgezeichnete Grundstruktur ist, steht
in Frage, denn die Notwendigkeit der Entwicklung, in der
Lukas eine erhebliche Bolle spielt, vermag die Spannung
zwischen Ursprung und erreichtem Zustand nicht aufzuheben
; dem Ursprung kommt vielmehr die bleibende
kritische und damit reformatorische Funktion gegenüber
dem je erreichten Zustand zu. So gewiß man Lukas wird
ekklesiologiseh lesen müssen und können, so gewiß kann das
nicht auf der Linie einer gradlinigen Entwicklung geschehen,
sondern in dem notwendig-spannungsvoll-kritischen Miteinander
der Freiheit in Vollmacht und der Notwendigkeil
institutioneller Formen. Von dieser Position aus müßte ich
<lann Einzelheiten der kritischen Bemerkungen Schürmanns
zu meinem,Lukas-Kommentar neben mancherlei Zustimmung
seinerseits und Übereinstimmung, die icli gern feststelle,
widersprechen, denn eine überzeugende Gegenposition ist
mir öfter nicht sichtbar geworden. Die Frage nach einem
ekklcsiologischen Verständnis des Lukasevangeliums auf dem
Hintergrund der Apostelgeschichte ist durch H. Schürmann
unüberhörbar gestellt; ihre Aufnahme kann evangelische
Exegese, die sich mitunter abseits von der Kirche und ihrem
Leben vollzieht, nur befruchten und kirchlich relevant
werden lassen, aber sie wird anders als bei H. Schürmann
"ussehen müssen.

Ein letzter Blick muß noch auf die Behandlung des
Präludiums geworfen werden, die Vorgeschichte, deren Verständnis
vor allem im katholisch-kirchlichen Baum brisant
'st. Das zeigen „offene Fragen zur lukanischen Geburts- und
Kindheitsgeschichte", die A. Vöglle in „Bibel und Leben"
1970 51-67 auf dem Hintergrund des Beuroner Tagungsberichtes
der „Deutschen Arbeitsgemeinschaft für Mario-
'ogie" an Schürmann richtet. Schürmann überschreibt das
Präludium „Jesu Ursprünge in Gott" und findet dazu die
Zustimmung Vögtles. Er analysiert sorgfältig das traditions-
geschichtlichc Zustandekommen des Erzühlungszusammcn-
hanges. Seine besondere Aufmerksamkeit richtet sich auf das
"atus ex virgine Maria. Das ungünstige Ergebnis jeder
traditionsgeschichtlichcn Untersuchung wird nicht verdeckt;
es hat im Bereich einer Kirche, die die Mariologie als wesentliches
Lehrstück in sich trägt, starkes Gewicht. Zur Zeit
w«d es, wie Vögtle zeigt, unter der Frage „Historisches
Faktum oder Theologumenon" erörtert. Vögtle wirft das
Ergebnis der Überlieferungsgeschichtc in die Waagschale und
wagt die These der historischen Faktizität nicht, während
Schürmann in seinem Kommentar ihre Möglichkeit offenzuhalten
sich bemüht und die alte Geheimhaltung»- bzw.
Zurückhaltungshypothese wieder erörtert. Er will gegenüber
Vögtle die „Frage nach der Historizität eines Faktums
und die nach dem Vorhandensein eines historisch tradierten
Berichtes über dasselbe auseinandergehalten" wissen. Aber

wie soll ein historisches Faktum ohne Berichterstattung als
solches erkannt werden? Schürmann empfiehlt der exegetischen
Wissenschaft große Zurückhaltung, „um die
exegetische Offenheit der Frage nach dem Faktum einer
geistgewirkten Lebensentstehung Jesu sichtbar zu machen",
rechnet selbst aber auch mit der Möglichkeit eines Theologumenon
, „das sieh der geistlichen Meditation und theologischen
Beffexion verdankt". Er scheint, wie eine Bemerkung
über die unbefleckte Empfängnis der Maria an-
deutet, „dem Tiefblick des kirchlichen Glaubensbewußtseins"
eine die historische Faktizität begründende und erhellende
Funktion zuzuerkennen (45 A. 34). Die starke Blickrichtung
auf das exegetische Offenhalten der Möglichkeit für die
Faktizität des marianischen Dogmas gegenüber dem Einspruch
historisch-kritischer Wissenschaft läßt exegetisch er-
hebbare Einsichten zurücktreten. Ich meine das Motiv der
Ki wählung des Verachteten und des Nichtbeachteten in der
Vorgeschichte, obwohl es durch das Magnilikat eindeutig in
die Mitte gerückt ist. Ihr ist das Geschehen um Maria eingeordnet
. Das Erwählen geschieht im Wort des Engels und
sucht den Glauben als Vertrauen darauf, daß geschieht,
was das Wort zusagt, weil es Wort von Gott her ist. Darum
ist das Verstummen des Zacharias mehr als ein Strafzeichen;
es ist Hilfe zum Glauben, der sich auf das Wort richtet.
Weil es in den Vorgeschichten grundlegend um den Bezug
zwischen Wort und Glauben geht, ist Maria für Lukas das
Beispiel solchen Glaubens. Und noch eine Frage: Den
Begriff der „ausschließlichen Hörigkeit Jesu" in der Erzählung
vom Zwölfjährigen (136) würde ich gern ersetzt
sehen durch den in anderem Zusammenhang von H. Schürmann
geprägten Begriff der „liebenden Angchorigkeit" (in
Die Freiheitsbotschaft des Paulus — Mitte des Evangeliums ?
Catholica 25, 1971, 40: „Die Freiheit der Söhne Gottes ist
nämlich zutiefst nicht fügsame Hörigkeit, sondern zunächst
liebende Angebürigkcit").

Am Schluß aber muß ausdrücklich der Dank stellen für
das reiche Werk, das uns II. Schürmann geschenkt hat. Es
erfüllt über die große exegetische Leistung hinaus eine
ökumenische Aufgabe, insofern es zum Bewußtsein bringt,
wie der konfessionelle Einsatz auch seine exegetischen
Konsequenzen hat, und es zwingt dadurch in die weitere
Arbeil, gerade auch an den Stellen, an denen der Widerspruch
kontrovcrstheologisch entstellt. Mit dem Dank verbindet
sich ein doppelter Wunsch. Möge bald der Lukaskommentar
von IL Schürmann vollendet in unsere Hände
gelegt werden, und möge es dem Autor des Kommentars
beschieden sein, selbst das Dcsiderium zu erfüllen, das er
„über die immer zuwachsenden Monographien zur lukanischen
Theologie hinaus" als „eine zusammenfassende
Theologie des Lukas" (Vorwort VI, dazu das reiche Literaturverzeichnis
) ins Auge faßt. Es zu erfüllen, besitzt er die
besten Voraussetzungen, sieht er doch im Werk des Lukas
die möglicherweise entscheidende Position neulcstamentlich-
kirchlicher Theologie, was sich in weiterer Arbeit am lukanischen
Schrifttum im Vergleich zu anderen neu testamentlichen
Komplexen erweisen wird.

Eisennch Wnlter Grandmann

Jülicher, Adolf: Itala. Das Neue Testament in aJtbneinischer
Überliefen in;; nach den Handschriften hrs<;. Durchgesehen
und zum Druck besorgt von W. Matzlowf und K. Aland.
II: Marcusevangelium. 2., verb. Aufl. Berlin: de Gruyter
1970. VII, 160 S. 4°. Lw. DM 160,-.

K. Aland und seine Mitarbeiter am Institut für Neu-
testamentliche Textforschung in Münster/W. haben das
hinterlasscne letzte Werk A. Jülichers, die Ausgabe der
handschriftlichen Überlieferung der altlateinischen Evan-
gelienübcrsetzung, durch die Herausgabe des Lukas- und
des Johannes-Evangeliums 1954 und 1963 zu Ende geführt.
Uber die Vorzüge und Probleme dieser Ausgabe habe ich in