Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1973

Spalte:

732-734

Kategorie:

Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Schweitzer, Albert

Titel/Untertitel:

Ausgewählte Werke in fünf Bänden 1973

Rezensent:

Jenssen, Hans-Hinrich

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

731

Theologische Literaturzeitung 98. Jahrgang 1973 Nr. 10

732

die Stelle der entmächtigten Tora tritt, propagiert Paulus
nicht, wie seine Kritiker in Rom argwöhnen, den Anti-
nomismus, sondern den neuen Gehorsam unter dem Herrn
Jesus Christus.

In der Herrschaft Jesu Christi liegt, wie Eichholz im
neunten Kapitel herausstellt, der primäre Ansatz der
paulinischen Ethik. Rechtfertigung und Heiligung gehören
aufs engste zusammen, wobei die Heiligung „streng als die
von Gott in Christus geschenkte Möglichkeit zu verstehen
(ist), als die in der Bindung an Christus begründete neue
Wirklichkeit des zum Gehorsam befreiten Lebens" (270). In
diesem Kapitel über die Ethik des Paulus vermißt man
freilich eine etwas eingehendere Erörterung des paulinischen
Freiheilsgedankens. Doch scheint mir der Exkurs zur Frage,
ob Paulus in seinem Denken und Handeln revolutionär oder
konservativ sei, exegetisch darin recht glücklich zu sein, daß
er gegenüber der Kritik von Siegfried Schulz am paulinischen
angeblich cschatologisch motivierten Konservatismus 2:1 die
Schlattcrsche Exegese von 1 Kor 7,21 — 24 zu erneuern
versucht, indem V. 21b „Wenn du aber frei werden kannst,
so mach um so lieber Gebrauch davon" (279) übersetzt wird.

Bemerkenswert ist dagegen das zehnte und letzte Kapitel
bei Eichholz mit der Würdigung von Rom 9—11. Diese
Kapitel bilden nach seiner Exegese keinen nachträglichen
Exkurs zum Israelproblem, sondern sind integrierender
Bestandteil des Römerbriefes, werden von der Rechtfertigungstheologie
zusammengehalten und schärfen der
römischen Gemeinde ein, daß die Kirche an Israel gebunden
bleibt, sofern Gott in der Freiheit seiner Gnade Heiden und
Juden das Heil der Glaubensgerechtigkeit in Christus verheißen
bat. „Die Kapitelfolgc Rom 9—11 (ist) eine umfassende
Information über Israel — Information für die
junge Kirche von Rom, die für endgültig nimmt, was für
Paulus nur begrenzt und nur vorübergehend gelten kann:
daß Israel immer noch nicht zum Glauben an seinen Christus
kam" (300).

Bedeutsam an dem Werk von Eichholz sind nach meinem
Urteil also vor allem der exegetisch behutsame theologische
Ernst, mit dem die paulinischen Texte abgehorcht werden,
die stärker als in anderen Werken über Paulus hervortretende
gesamtbiblische Linienführung und die Auslegung
der paulinischen Christologie als des Zentrums der Theologie
des Apostels. Auch zur weiteren Klärung des Verhältnisses
von Christologie und Rechtfertigung bei Paulus trägt Eichholz
viel bei. Aber auch dort, wo Fragen bleiben, bei dem
Verständnis der paulinischen Missionskonzeption, bei der
Auslegung von Rom 3,24ff., bei der genauen Verhältnis;
bestimmung von Rechtfertigung und Versöhnung und bei
Fragen der paulinischen Ethik hilft das Buch, klarer in die
Verkündigung des Apostels einzudringen und diese neu zu
durchdenken. Auch wenn die Paulusforschung der Gegenwart
, wie unser Durchgang zeigte, noch keineswegs zu
einhelligen Resultaten gekommen ist und noch einen weiten
Weg vor sich hat, bis sie zu solchen gelangt, zeigt das vorliegende
Werk, in dem Eichholz die Summe seiner Beschäftigung
mit den Paulusbriefen vorlegt, daß man gerade
an Paulus lernen kann, Theologie als Christologie zu treiben
und auch existentiell zu verantworten. In heutiger Zeit ist
das sehr viel.

1 G. Dornkamm, Paulus, Urban-Bücher HO D, 1969.

■ H. Ridderbos, Paulus, Ein Entwurf seiner Theologie, 1970.
Deutsch von E.-W. Pollmann.

* Sehalom Ben-Chorin, Paulus. Der Völkerapostel in jüdischer
Sicht, 1970.

* O. Kuss, Paulus. Die Rolle des Apostels in der theologischen
Entwicklung der Urkirche, 1971.

» G. Eichholz: Die Theologie des Paulus im Umriß. Neukirchcn-
Vluvn: Neukirchener Verlag des Erziehungsvereins (1972). XIV,
322 S. gr. 8°. Lw. DM 39,-.

« II. Conzelmann, Grundriß der Theologie des Neuen Testaments,

1967, §§ 18-35 (= 175-314).

7 VV. G. Kümmel, Die Theologie des Neuen Testaments nach seinen
llnuptzeugen Jesus Paulus Johannes, Grundrisse zum NT 3, 1969,
121-227.

■ K. H. Schclkle, Theologie des Neuen Testaments. I: Schöpfung,

1968, 33 — 49. 118 — 148.; ders., Theologie des Neuen Testaments.
III: Ethos, 1970, 47ff. u. passim.

• E. Käsemann, Paulinisclie Perspektiven, 1969.

" Vgl. Bornknnuns Paulus (s. Anm. 1) 10311. und Bornkamms Abhandlung
: Der Rönierbrief als Testament dei Paulus, In: Geschieht«
u. Glaube, II. Teil (= Ges. Aufs. IV), BevTb 53, 1971, 120 - 139.

11 So z. B. in Kleins Aufsatz: Kömer 4 und die fdec der Heils-
geschichte, jetzt in: Rekonstruktion und Interpretation, Ges. Aufs,
zum NT, BcvTh 50, 1969, 145-169, bes. 148ff. (zu Röm 3,21«. und
4,1—8), aber auch wieder in der neuen Abhandlung: Bibel und Heils-
geschiente, ZNW 62, 1971, 2-47, bes. 28ff.

11 Eichholz 196: vgl. W. Eiert, Redemptio ab hostibus, ThLZ 72,
1947, 265 —270: G. liornkamm, Die christliche Freiheit, in: Das Ende
des Gesetzes (Ges. Aufs. I), BevTh 16, *1952, 133- 138. Bornkamm
bezieht sich in dieser Meditation über Gal 5,13 — 15 allerdings nicht
auf Köm 3,24, wie Eichholz vermuten läßt. Das tut auch W. Schräge
nicht, auf dessen Studie ,,Das Verständnis des Todes Jesu Christi im
Neuen Testament", in: Das Kreuz Jesu Christi uls Grund des Heils,
hrsg. von Fr. Viering, 1967, 48-112 (vgl. bes. 81 Anm. 103), Eichholz
ebenfalls verweist.

11 Vgl. E. Käsemanns Aufsalz: Erwägungen zum Stiebwort ,Versöhnungslehre
im Neuen Testament', in: Zeit und Geschichte, Dankesgabe
an H. Bultmann zum 80. Geburtstag, hrsg. von E. Dinkler, 1964,
47—59. Ich muß Ulierdings gestehen, daß ich die scharfe Differenzierung
zwischen Sühnopfer- und Slellvertretungsgedanken historisch
für irrig halle und jedenfalls an den Paulustexten selbst nicht
verifizieren kann.

14 Ich versuche hiermit, die in meinem Buch „Gerechtigkeit Gottes
be i Paulus", FRLANT 87, "1966, 86ff. gegebene Interpretation zu
korrigieren und weilerzuführen.

11 Ebenso G. Delling, Der Kreuzestod Jesu in der urchri sllichen
Verkündigung, 1972, 23.

" Vgl. Chr. Mnurer. ThV VIII 166, 17B.

17 In 3,23f. wird die Rechtfertigung mit dem Geschenk der neuen
Gerechtigkeit = Herrlichkeit gleichgesetzt, was sich am besten von
Apk. Mos. 20 her illustrieren läßt. vgl. Gerechtigkeit Gottes bei
Paulus" (s. Anm. 14) 87 und 11. Thyen, Studien zur Sündenvergebung,
FRLANT 96, 1970, 170.

11 Ich kann also G. Delling nur zustimmen, wenn er n. a. O. (s. Anm.
15) feststellt: ,.In 3,25f. nimmt Paulus die Vorstellung der Sübne auf,
der er alsbald die Aussage der Rechtfertigung zuordnet: Gott erzeigt
sich als gerecht in seinem sühnenden Handeln im Kreuz, in dem die
Schuld dadurch aufgehoben wird, daß Christus sie stellvertretend
trägt; auf das .Sühnegeschehen des Kreuzes hin rechtfertigt Gott den
Sünder."

Eichholz 226f. unter Berufung auf G. Klein, Gottes Gerechtigkeit
als Thema der neuesten Paulus-Forschung, in: Rekonstruktion und
Interpretation (s. Anm. 11) 230 und IT. Conzelmann, Grundriß der
Theologie des NTs. (s. Anm. 6) 241.

10 G. Bornkamm, Theologie als Teufclskunst, in: Geschichte und
Glaube II (s. Anm. 10) 140-148.

11 Röm. 8,3 ist Kai ICEpt Sliapttag nicht, wie Jetzl wieder bei
Eichholz (155), mit „und um der Sünde willen" zu übersetzen, sondern
entsprechend dem technischen Sprachgebrauch der Scptuaginla „und
als Sünd- bzw. Sühnopfer", vgl. E. Schweizer, Ökumene im Neuen
Testament: Der Glaube an den Sohn Gottes, in: Beitrage zur Theologie
des Neuen Testaments (NU. Aufsätze 1955- 1970), Zürich 1970,
(97 — 111) 104f. Vgl. die sinngleiehcn Formeln .loh 3,16 und 1 Joh 2,lf;
4,10.

M K. Beysehlag, Clemens Romanus und der Frühkalholizismus,
BhTh 35, 1966, 349.

M S. Schulz, Hat Christus die Sklaven befreit?, Ev. Kommentare 5,
1972, 13 — 17; vgl. dazu meine kritische Replik Ev. Kommentare
1972, 207 -299.

I

/^ALLGEMEINES, FESTSCHRIFTEN

»» <

Schweitzer, Albert: Ausgewählte Werke in fünf Bänden.

Geleitwort von Gerald Gotting. Einleitungen von Rudolf
Grabs. I: Aus meinem Leben und Denken. Aus meiner
Kindheit und Jugendzeit. Zwischen Wasser und Urwald.
Briefe aus Lainbarene 1924-1927. 702 S., 1 Taf.; II:
Verfall und Wiederaufbau der Kultur. Kultur und Ethik.
Die Weltanschauung der indischen Denker. Das Christentum
und die Weltreligionen. 741 S., 1 Taf.; III: Geschichte
der Leben-Jesu-Forschung. 933 S., 1 Taf.; IV: Die Mystik
des Apostels Paulus. Reich Gottes und Christentum.
775 S., 1 Taf.; V: Aus Afrika. Kulturphilosophie und
Ethik. Religion und Theologie. Deutsche und französische
Orgelbaukunst und Orgelkunst. Goethe. Vier Reden.
Ethik und Vülkcrfrieden. Nachwort. Anhang. 655 S., 1 I ii.
Berlin: Union-Verlag [1971]. 8°. Lw. M 68,-.
Die Werkausgabe des Union-Verlages ist die erste deutschsprachige
, ja europäische Ausgabe der Hauptwerke Albert
Schweitzers — mit Ausnahme seines in der DDR bereits
verlegten großen Werkes über J. S. Bach und der Geschichte
der paulinischen Forschung sowie zahlreicher kleinerer
Schriften, hauptsächlich autobiographischer, theologischer,
philosophischer und politischer Natur. Die erste Gegamt-

Iausgäbe der Werke Albert Schweitzers in 19 Bänden erschien
1956 in Japan.