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Ausgabe:

1973

Spalte:

705-707

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Vanneste, Alfred

Titel/Untertitel:

Le dogme du péché originel 1973

Rezensent:

Bertinetti, Ilse

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705

Theologische Literaturzeitung 98. Jahrgang 1973 Nr. 9

Vanneste, A.: Le Dogme da Piche Originel. Traduit duNer-
landais par A.Freund. Louvain: Nauwelaerts; Paris:
Beatrice-Nauwelaerts [1971]. VII, 162 S. gr. 8° — Reoher-
ches africaines de Theologie. Travaux de la Faculte de
Theologie de l'Universite de Kinshasa, 1. Kart. bfr. 400,—.

Die katholische Studie will das traditionelle Dogma
vom peccatum originale einer gründlichen Revision unterziehen
. Wie schon die sorgfältige, allerdings erstaunlich
sparsame Literaturzusammenstellung ausweist, sieht der
Verfasser darin ein exklusiv theologisches Anliegen. Philosophierende
und anthropologisierende Versuche, wie sie
sich etwa im Zusammenhang mit der Evolutionstheorie
anbieten, besitzen für Vanneste bemerkenswerterweise
nicht die Relevanz, die ihr manche Theologen heute beimessen
. Seine Kritik an bestimmten dogmatischen Formulierungen
tendiert auch nicht dahin, die Kirchenlehre
zu eliminieren, er will vielmehr eine gültige Antwort nach
•hrern tieferen Sinn geben und die in mythischer und darum
oft schwerverständlicher Sprache ausgedrückten
theologischen Wahrheiten neu entdecken. Das geschieht
auf der Grundlage einer explizierten und fortgeführten
augustinischen Theologie.

»Erbsünde" als rational nicht zu erfassende Kategorie
ist ungeachtet ihrer Universalität persönliche Sünde
jedes einzelnen Menschen nach „Adam" und betrifft sein
persönliches Verhältnis zu Gott. Die aktuelle Bedeutung
der tradierten Lehre liegt darin, daß sie einen wesentlichen
Aspekt sowohl der christlichen Existenz vor Gott als auch
einer allgemeinen religiösen Erfahrung beschreibt
(>>•.. nous estimons que cette antique doctrine garde
pleinement son actualite et qu'elle demeure l'expression
authentique d'un aspect tres reel et tres important de
1 experience chretienne, voire de l'experience religieuse
humaine universelle". - S.7).

Vanneste setzt sich zunächst mit den einschlägigen
Texten (Gen 2 und 3; Rom 5,12-21 S.8-21 und 22-32)
auseinander, um anschließend die dogmengeschichtliche
Entwicklung in großen Zügen (pelagianischer Streit;
Konzil von Karthago; Tridentiner Konzil; Dogma von der
unbefleckten Empfängnis) zu verfolgen (S. 33-139). Dabei
Werden jeweils die in den verschiedenen Etappen der
Dogmenbildung gravierenden Fragenstellungen und Sachverhalte
untersucht. Bestimmte Probleme, wie das Verhältnis
von guter Schöpfung und Sünde, die sich auf die
Neugeborenen Kinder erstreckende Universalität der
Sünde, das peccatum manens nach der Taufe, der Nexus
von Sünde, Tod und Leiden sowie die Frage nach dem
Wesen der Konkupiszenz werden eingehender behandelt
und dogmenhistorisch eingeordnet.

Terminologisch entscheidet sich Vanneste unter Zurückweisung
des mißverständlichen (wenn auch von Augustin
bereits häufiger gebrauchten) Ausdrucks peccatum haere-
uitarium und seiner entsprechenden Übersetzungen
UErbsünde"; in der holländischen Muttersprache des
Verfassers „erfzonde"; französisch „peche hereditaire")
Jur die Verwendung von peccatum originale, in französischer
Sprache peche originel. Der Gedanke an ein peccatum
haereditarium wird als biblisch nicht belegbar abgewiesen
(S.44f.); zwar werden die Kinder im Status der
Sünde geboren, aber es gibt keine Übertragung durch
»Vererbung" („... cette idee, selon laquelle le peche
serait transmis par heritage (ou transmission) ne se ren-
eontre pas explicitement dans la Bible..." S.44).

Positiv versucht Vanneste darzulegen, daß die Lehre
v°ffl peccatum originale gerade in ihrer mythischen Gestalt
einen Wahrheitsgehalt impliziert, der nur auf Grund
der Unmöglichkeit einer adäquaten sprachlichen Aus-
«rucksform in den Mythus eingekleidet wurde. Daß Adam
Und Eva mythische Gestalten sind, die ein menschliches
Kollektiv symbolisieren, gilt für Vanneste axiomatisch.

Der Sinn von Gen 2 und 3 hegt darin, daß man die Allgemeinheit
der Sünde nicht demonstrieren kann, ohne
davon auszugehen, daß bereits „Adam" gesündigt hat.
Das bedeutet, daß keine Datierung innerhalb der menschlichen
Geschichte möglich ist, die hinsichtlich der Sünde
und ihrer Folgen als ein Vorher fixier bar wäre.

In die Auseinandersetzung mit dem Protestantismus
tritt Vanneste mehrfach, jedoch ohne Polemik ein. Die
beiden großen Konfessionen behaupten jede für sich, die
Theologie Augustins fortzuführen. Die Gegensätze, die in
der Reformation aufbrachen und die Anlaß waren, auf
dem Tridentiner Konzil die Erbsündenlehre ausführlicher
zu behandeln, sind im Grunde niemals überwunden worden
und treten in immer neuen Variationen in Erscheinung.
Das von den Protestanten abgelehnte Dogma von der
unbefleckten Empfängnis Mariens (1854) ist nach Vanneste
die legitime Anwendung der konsequent zu Ende
gedachten augustinischen Sünden- und Gnadenlehre.
Wenn Pius IX. lehrte, daß Maria in einer antizipierenden
Teilhabe am meritum Christi von der Erbsünde verschont
blieb, so werde damit bekräftigt, daß das von Gott
den Menschen zugedachte Heil einzig von und durch
Christus verifiziert wird. Für die häufiger reflektierte
Frage nach dem Verhältnis von Schöpfung und Erlösung
ist dieser Gedanke von hervorragender Bedeutung, weil
die unlösbare Einheit beider durch ihn verdeutlicht wird.
Denn der Christ kann die Schöpfung nicht anders als von
Christus her verstehen. Alles Geschöpfliche ist nur in der
Determination durch den heilsgeschiehtlichen Bezug als
gut anzusprechen bzw. zu erkennen; eine abstrahierende
Redeweise von guter Schöpfung oder guter Natur ist
pelagianisch.

Bis hierher wird man Vanneste gern folgen können, zuletzt
aber doch an ihn die Frage richten müssen, ob nicht
der Gedanke der Unterscheidung von außermenschlicher
Schöpfung und menschlichem Geschöpf stärker ausgezogen
werden müßte. Der Mensch wird als das Geschöpf
bezeichnet, das seine Bestimmung verfehlte („il
faillit a sa vocation naturelle", - S. 134), aber eine weiterführende
Darlegung des Verhältnisses von Natur des
Menschen und göttlicher Gnade wird nicht gegeben. Die
Antwort, die Vanneste auf die Frage nach der menschlichen
Natur, ihrer teilweisen oder völligen Verderbnis,
nach dem freien oder gebundenen Willen und den hieran
entbrannten konfessionellen Streitigkeiten glaubt geben
zu sollen, erscheint zwar denkbar einfach, kann aber doch
wohl nicht restlos befriedigen. Sie tendiert dahin, daß
sämtliche Probleme gelöst sind, wenn die Existenz der
Sünde im Zusammenhang der Heilsökonomie Gottes gesehen
wird. Der universelle Heilswille Gottes entspricht
der Universalität der Sünde. Damit werde auch die Frage
nach dem Schicksal ungetauft sterbender Kinder beantwortet
(vgl. S. 135-146).

Die Lehre Augustins, nach der diese Kinder mit Sündenstrafen
, die nur „omnium mitissima" seien, belegt
würden (depecc. et rem. I, c. XVI; vgl. S.135, Anm.l),
werde gewöhnlich modifiziert unter Zugrundelegung der
Anschauung, daß kein Mensch in die Ewigkeit eintritt,
ohne in irgendeiner Weise mit der Möglichkeit, das angebotene
Heil zu ergreifen, konfrontiert zu werden. Vanneste
warnt allerdings davor, den göttlichen Heilswillen
mit einem Heilsmechanismus zu verwechseln. Die katholische
Lehre, nach der ungetaufte Kinder im Stande der
Sünde sind, falls sie sterben, drücke lediglich den Glauben
aus, daß alle Menschen Sünder sind und daß sie nur durch
die Gnade Christi gerettet werden können.

Die Konklusion Vannestes (S.142-146) bringt folgende
Ergebnisse: Der Mensch ist Sünder und wird als
Sünder geboren, jedoch nicht, weil Gott ihn sündig geschaffen
habe (es gibt kein peccatum naturae, wie einige
Scholastiker im Gegensatz zu Augustin meinten), son-