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Ausgabe:

1973

Spalte:

699-701

Kategorie:

Religions- und Kirchensoziologie

Titel/Untertitel:

Religion im Umbruch 1973

Rezensent:

Kretzschmar, Gottfried

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699

Theologische Literaturzeitung 98. Jahrgang 1973 Nr. 9

700

RELIGIONSSOZIOLOGIE

Wössner, J.: Religion im Umbruch. Soziologische Beiträge zur
Situation von Religion und Kirche in der gegenwärtigen
Gesellschaft, hrsg. in Gemeinschaft mit L. von Deschwanden
, K.Erlinghagen, H.J.Helle, L.Hoffmann, S.Höllinger,
A.Holl, B.Klaus, Th.Luckmann, N.Luhmann, J.Morel,
G.Singer, H. Staudinger, F.H.Tenbruck, L.Vaskovics.
Stuttgart: Enke 1972. VII, 419 S. gr. 8°. Balacron DM 45.—.

Auch an der Kirche gehen die Veränderungen, in denen
sich die Welt befindet, nicht spurlos vorüber. Dabei ist
unverkennbar, daß die führende Rolle des Christentums
abgelöst wurde von einem Pluralismus der Meinungen und
Systeme. Weil dies so ist, reicht folgerichtig die Skala der
Beurteilung von Religion und Kirche in der modernen
westlichen Gesellschaft von einem Extrem zum anderen.
Meinen kritische Beurteiler, die Zeit transzendenter Bindungen
der Menschen sei endgültig vorbei und die Religion
habe ihre Funktion nahezu ganz verloren, so rechnen
andere Beobachter mit einer Reaktivierung religiöser
Systeme und ihrer Bedeutung für den einzelnen.

Auf diesem Hintergrund verschiedener Meinungen muß
der Sammelband gesehen werden, der in 16 Beiträgen
versucht, Antwort zu geben oder Probleme zu zeigen. Die
Autoren, die vorwiegend aus dem Bereich von Universität
und Hochschule kommen und ihres Zeichens vor allem
Soziologen und Theologen katholischer Konfession sind,
schildern die Situation aus der Umwelt der BRD (11),
Österreichs (4) und der Schweiz (1). Der deutschsprachige
westeuropäische Raum zeigt jedoch auch viel Zusammenhänge
, bei der die Frage nach der Staatszugehörigkeit
zweitrangig ist. Das Buch ist in vier Hauptabschnitte eingeteilt
: L Allgemeine Grundlegung, II. Religiös-Kirchliche
Wertorientierungen und Gesellschaft, III. Spezielle
Aspekte von Religion und Kirche, IV. Gemeinde und
Kirche.

Während im ersten Hauptabschnitt Thomas Luck-
mann, Professor für Soziologie an der Universität Konstanz
, über die „Religion in der modernen Gesellschaft"
grundsätzliche Ausführungen macht, geht Jakobus
Wössner, Professor für Sozialphilosophie und Allgemeine
Soziologie an der Hochschule für Sozial- und Wirtschaftswissenschaften
in Linz, auf die „Religion als soziales
Phänomen" ein und üefert dadurch einen Beitrag zu einer
religionssoziologischen Theorie. Adolf Holl schließlich,
katholischer Geistlicher und Dozent für Religionswissenschaft
an der Wiener Universität (weiten Kreisen bekannt
durch sein Buch „Jesus in schlechter Gesellschaft", Stuttgart
1971), stellt „Prognosen für den sozialen Stellenwert
religiöser Phänomene in Industriegesellschaften" auf
und kommt u.a. zu dem Schluß, daß in den nächsten
Jahren die Gottesdienstbesucherfrequenz zwar weiter
abnehmen wird, die „Tempelkultur" (S.55) aber, d.h. die
Fortexistenz und der Neubau von Gotteshäusern, für die
kommenden Jahrzehnte gesichert scheint..

Im zweiten Hauptabschnitt geht Hugo Staudinger, Professor
am Deutschen Institut für Bildung und Wissen in
Paderborn, auf die „Pluralistische Gesellschaft und religiöse
Wertorientierungen" ein, während J.Morel, Professor
für Soziologie an der Universität in Innsbruck,
„Soziologische Aspekte des Normativen" untersucht und
dabei den Begriff der Norm kritisch hinterfragt sowie ihn
als Aufgabe für interdisziplinäre Forschungsarbeit herausstellt
. Karl Erlinghausen, Professor am Fachbereich
Philosophie-Psychologie-Pädagogik der Universität Regensburg
, legt eine aufschlußreiche Untersuchung zum
Thema „Religiöse Werte und Bildungsverhalten" vor.
Gerwolf Singer indes, der sich über „Sozio-Kulturelle
Determinanten religiöser Orientierungen" äußert, befriedigt
den Rez. nicht immer, was u.a. auch mit an der

Diktion liegen mag, die teilweise ein sinnvolles Lesen sehr
erschwert. Professor Horst Jürgen Helle schließlich macht
interessante Ausführungen zum Thema „Symboltheorie
und religiöse Praxis". Er weist dabei u.a. auf die Wichtigkeit
hin, Symbole verstehen zu lernen, zumal das Verstehen
von Symbolen nicht ererbt wird, sondern erlernt
werden muß.

Im dritten Hauptteil wird zunächst von dem Tübinger
Soziologen F.H.Tenbruck das alte Thema „Wissenschaft
und Religion" erörtert und u.a. darauf hingewiesen, daß
beide Faktoren ein „verschiedenes Verhältnis zur Erfahrung
" (S.224) besitzen. Deshalb müsse auch die Meinung
zurückgewiesen werden, „daß der Terrainverlust der
Religion die adäquate Folge des Erkenntnisfortschrittes
sei" (S.232). Überhaupt sei es falsch, „einen fixen Gegensatz
von Naturwissenschaft und Religion zu unterstellen,
weil sich die Versachlichung der Welt als Natur (und d.h.
vom religiös-theologischen Standpunkt aus: ihre Profanierung
) durch die Naturwissenschaften in Etappen
vollzog" (S. 233). Niklas Luhmann, Soziologe an der Bielefelder
Universität, untersucht das Thema „Die Organi-
sierbarkeit von Religionen und Kirchen" und weist dabei
auch auf die „internen Probleme kirchlicher Organisation"
(S.265) hin, wenn er sagt: „Wir wissen mangels empirischer
Untersuchungen nicht, wie hoch der Anteil kirchenbürokratischer
Aktivitäten ist, der faktisch ohne
jeden Bezug auf Glaubensfragen abläuft - vermutlich
sehr hoch" (ebd.). Interessiert liest man sodann den Beitrag
von Bernhard Klaus, Professor am Erlanger Seminar
für Homiletik u. der Abteilung für Christliche Publizistik
, über „Medien und religiöses Verhalten". Anhand
von Zahlen wird erneut die immense Bedeutung von Funk,
Film und Fernsehen für den Dienst der Kirche herausgestellt
, und die Kirchen werden aufgefordert, alle diesbezüglichen
Neuerungen (z.B. das Kassetten-Fernsehen)
in geeigneter Weise und zur rechten Zeit gezielt einzusetzen
. Nicht minder wichtig ist der Beitrag von Laszlo
Vaskovics, Dozent an der Universität Trier-Kaiserslautern
, über „Religion und Familie - Soziologische Problemstellung
und Hypothesen". Er macht dabei deutlich,
daß die Kirchen bestrebt waren und noch sind, auf die
Institution von Ehe und Familie einzuwirken und die Familien
unter ihre soziale Kontrolle zu bringen, zumal die
Rekrutierung und kirchliche Plazierung (im Falle bekenntnisverschiedener
Ehepartner) der Mitglieder wesentlich
von bestimmten sozialen Leistungen der Familie abhängt
. Durch Sigurd Höllingers Beitrag aus Wien über
„Das Verhältnis der Jugend zur Religion am Anfang der
siebziger Jahre" bekommt man einen guten Einblick in
die Situation in Österreich und in der BRD. Protestbewegungen
, Beat-Kultur und Drogenkonsum werden im
Zusammenhang mit den Fragen nach dem religiösen Bewußtsein
gesehen. Dabei steht es für Höllinger fest: „Die
Aufgeschlossenheit für metaphysische Handelnsorientierung
bedeutet keineswegs ein Akzeptieren der traditionellen
Organisationsformen der Kirchen" (S.366).

Der vierte Hauptabschnitt schließlich beginnt mit
einem Beitrag von Lutz Hoffmann zum Thema „Management
und Gemeinde". Kirchgemeinden und Industriebetriebe
werden verglichen und in ihren Gemeinsamkeiten
und Unterschieden herausgestellt, so daß eine nachdenkenswerte
Typologie der Organisation entsteht. Der
letzte Aufsatz stammt von dem Schweizer Leo v. Deschwanden
aus Winterthur. Unter der Themenstellung
„Die Rolle des Gemeindepriesters zwischen Kirche und
Gesellschaft" liefert er einen Beitrag zum Berufsbild und
den damit möglichen Konflikten eines katholischen Pfarrgeistlichen
. Nicht unproblematisch erscheint dabei dem
Rez. der Versuch, die Rollenbeziehungen des Priesters mit
verfeinerten Methoden der empirischen Forschung zu