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1973

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

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Neuerscheinungen

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693 Theologische Literaturzeitung 98. Jahrgang 1973 Nr. 9 694

Abaelard eine ausgeprägte Gesinnungsethik: Es kommt
bei jeder ethischen Entscheidung auf die voluntas des
Menschen im Sinne seiner intentio an, während die opera
als solche im Grunde indifferent sind. Der Mensch wird
also nicht so sehr danach beurteilt, ob er objektiv das
bomim vollbringt, sondern ob er bene oder male handelt.
Eine Intention ist aber gut, wenn ihr finis in Gott statt
im Menschen liegt, wenn das Motiv also der Caritas statt
der cupiditas entspringt. Sünde ist hier Schuld der Gesinnung
. Entscheidend ist bei solcher Auffassung natürlich
der einzelne Willensakt, da die intentio nicht zum
habitus wird, sondern von Fall zu Fall neu ist. Die Problematik
dieser Betrachtungsweise erhellt aus der Aussage,
es gebe kein wirkliches malum außerhalb des menschlichen
Willens; alle physischen Übel seien nur Scheinübel.

Ich möchte Peppermüller darin zustimmen, daß man
wohl von pelagianischen Anklängen, aber nicht von einem
eigentlichen Pelagianismus Abaelards sprechen kann.
Anders als beim spätmittelalterlichen Nominalismus -
ich würde statt dessen lieber von Ockhamismus sprechen
und auch inhaltlich innerhalb desselben differenzieren -
halte Abaelard betont daran fest, daß allem menschlichen
Tun, das zum Heil führt, die gratia vorausgeht. Diese
Gnade aber ist allen Menschen gemeinsam, kennt doch
Abaelard keine von der gratia praeveniens unterschiedene
und sakramental vermittelte Heilsgnade. Wenn der Ausgang
des Menschen - erwiesen durch das Endgericht nach
den Werken - konträr ist, so hat dies seine Ursache allein
darin, daß die einen rechtschaffen leben, um der angebotenen
Belohnung teilhaftig zu werden, während die anderen
in ihrer Trägheit verharren und die Mühe des Gehorsams
beiden. Das liberum arbitrium des Menschen bleibt hier
voll gewahrt, und die Prädestination muß zur Präszienz
erweicht werden. Die merita sind insofern Werk des Menschen
, als er die Gnade ergreift, die ihn zu diesen befähigt.
Gott will, daß alle. Menschen errettet werden, wenn diese
selbst es wollen.

Die unbeschränkte Verantwortlichkeit des Menschen erhellt
auch daraus, daß er nach der imago Gottes geschaffen
ist, indem Gott ihm die ratio verlieh. Mit dieser aber
erlangte er die Fähigkeit, zwischen Gut und Böse zu
unterscheiden. Die gratia fidei und die gratia der in der
ratio gegebenen lex naturalis gehen ineinander über. Erst
der consensus der ratio - in der zur Zeit des Römerbrief-
Rornmentars schon in Angriff genommenen Ethica entwickelt
Abaelard eine förmliche consensus-Ethik - bedeutet
Sünde oder Verdienst im eigentlichen Sinne. Die
Kriterien des Handelns entnimmt das liberum arbitrium
der conscientia, denn sie ist das Organ, das dem Individuum
den göttlichen Willen kundtut. Während die
ratio Gottes Willen offenbart, sind die concupiscentiae
irrational und außerhalb des Willens, so jedoch, daß sie
dem Willen eine falsche Richtung geben. Schon das Naturgesetz
bindet nämlich durch die Goldene Regel fest an das
Liebesgebot und bildet deshalb inhaltlich eine Einheit
"jit dem Evangelium ab der lex caritatis. Das mosaische
Gesetz ist von beiden qualitativ unterschieden, da es die
Nächstenliebe auf die Angehörigen des Volkes Israel beschränkt
, also das Gebot der Feindesliebe nicht kennt. Im
Grunde ist deshalb das AT für den Christen außer Kraft
gesetzt, denn seine Moralgebote sind im NT erneuert und
vervollkommnet, seine figurae und signae sind durch
^hristi Kommen erfüllt und das Zeremomalgesetz ist
durch das Evangelium aufgehoben - diese Problematik
^trifft freilich m.E. die gesamte Scholastik und darüber
hinaus fast alle christliche Theologie.

Aus dem Grundsatz der unvertretbaren persönlichen
Verantwortlichkeit des Menschen folgt aber auch, daß
Abaelard die fides explicita eines jeden Gläubigen für
unumgänglich hält. Der personale, selbstverantwortete
Glaube ist für ihn allein christlicher Glaube, nicht aber die

fides implicita als autoritativ vorgegebener, mehr oder
minder kritiklos zu rezipierender Glaube. Er wird wie bei
Luther vorrangig durch das Wort der Verkündigung geweckt
, und die Kirche ist die Gemeinschaft der wirklichen
Kinder Gottes, die durch die Verkündigung zum Glauben
kamen. Jeder Gläubige ist in seinem Gottesverhältnis
unmittelbar. Die vera fides ist nach Gal 5,6 die, aus der
die Liebe hervorgeht. Sie ist zugleich das Ziel aller Gebote
Gottes. Der rechtfertigende ist tätiger und zum Handeln
in der Caritas bereiter Glaube. Die Werke sind seine
Zeichen und als solche geeignet, ihn zu beurteilen. So sind
Glaube und Werke untrennbar, und die Caritas erweist
sich als Zielpunkt und Existenzmitte, auf die Soteriologie
und Ethik gegründet sind.

Wollte sich Abaelard mit seinem existentiell-ethi-
zistischen Grundansatz nicht in völligen Gegensatz zur
Tradition wie zu den theologischen Zeitgenossen bringen,
die ihm ohnehin genug zu schaffen machten, so mußte er
Kompromisse eingehen, die sich innerhalb seines Gesamtsystems
verunklarend auswirkten. Zu diesen Kompromissen
gehören vor allem die Erbstrafentheorie als Um-
deutung der Erbsündenlehre, durch die Elemente der
objektiven Heilsbedeutung Christi festgehalten wurden,die
die mehrdeutige und schillernde Verwendung traditioneller
soteriologischer Termini, die Einführung gewisser
objektiver Normen der Ethik, die freilich durch die Forderung
der fides explicita motiviert werden kann, und das
faktische Festhalten am AT. Trotzdem weist sein personaler
Ansatz - wie Peppermüller mit Recht hervorhebt -
in die Zukunft und kann sich gerade auch im ökumenischen
Gespräch der Gegenwart als fruchtbar erweisen.
Man muß dann freilich darauf achten, daß man nicht aufs
neue in einen geschichtslosen Individualismus gerät, dessen
verabsolutierter Gesinnungsethik wir gerade entronnen
sind.

Kostock Gert Wcndelborn

Webster, Alan: Julian of Norwieh (ET 84, 1973 S.228-230).

KIRCHENGESCHICHTE: NEUZEIT

Hanl, Friedrich: Franz von Baader und die Entwicklung seines
Kirchenbegriffs. München: Hueber 1970. XXIV, 264 S.
gr. 8° = Münchener Theologische Studien, im Auftrag der
Katholisch-Theologischen Fakultät München hrsg. v.
K.Mörsdorf, H.Tüchle u. W.Dürig, I. Historische Abt., 18.
DM 38.—.

Die vorliegende, von H. Fries angeregte Arbeit, die im
SS 1968 von der Katholisch-Theologischen Fakultät
München als Dissertation angenommen wurde, hat das
Ziel, „die Gestalt des Philosophen und Reformkatholiken
Franz von Baader wieder stärker ins Licht des Bewußtseins
" zu heben (S.V) und „anhand eines konkreten
Themas ein differenziertes Bild seines Denkens und seiner
geistigen Entwicklung zu zeichnen" (S.3). H. betritt damit
forschungsgeschichtliches Neuland, „da bis jetzt noch
keine Arbeit über den Kirchenbegriff Baaders vorliegt"
(S.XI). Doch geht es H. keineswegs um eine bloße historische
Untersuchung. Seine Arbeit ist von der Überzeugung
getragen, daß B. „die Ekklesiologie des 19. Jahrhunderts
manche Impulse gegeben" hat, „die sich erst in
der Gegenwart voll auswirken" (S.3) und deshalb auf
diesem Wege „wichtige Orientierungen in der gegenwärtigen
Situation der Kirche" zu gewinnen sind (S.V). Der
tiefgreifende Wandel auf allen Gebieten des Lebens und
der Wissenschaft, der sich inzwischen vollzogen habe,
lasse „eine gerechtere Beurteilung Baaders" zu. Ja, nachdem
das Zweite Vatikanische Konzil „den Erneuerungs-