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Ausgabe:

1973

Spalte:

663-668

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Helck, Wolfgang

Titel/Untertitel:

Betrachtungen zur Grossen Göttin und den ihr verbundenen Gottheiten 1973

Rezensent:

Kaiser, Otto

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Seite 1, Seite 2, Seite 3

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683 Theologische Literaturzeitung 98. Jahrgang 1973 Nr. 9 664

Helck, Wolfgang: Betrachtunsen zur großen Göttin und den ihr ist eine andere, zur Diskussion herausfordernde These. Den
verbundenen Gottheiten. München und Wien: Oldenbourg Alttestamentler wird besonders berühren, daß der Stier
[1971]. 307 8., 200 Abb. gr. 8° = Religion und Kultur der zwar seit aiter Zeit mit dem Wettereott verbunden ist,
C Co e^Jd HDöS 2lnD-Ja™1^forschungen' hrs«- v- der Wettergott aber zunächst gar nichts mit dem sterben-
p u . orrie, . , . (jen ^es Vegetationszyklus und der sterbende Gott
Der Hamburger Ägyptologe und Orientalist Wolfgang seinerseits primär ebenfalls nichts mit dem Vegetations-
Helck legt in dem ganz ungewöhnlich weit ausgreifenden zykhis zu tun haben. Auch die Heilige Hochzeit sollen wir
und ebenso materialreichen Werk den kühnen Versuch zunächst unter Absehung von allen mit der Fruchtbarkeit
vor, eine Geschichte der Gestalt der Großen Göttin und zusammenhängenden Vorstellungen interpretieren. Und
der mit ihr verbundenen Gottheiten im Ostmittelmeer- schließlich sollen wir zur Kenntnis nehmen, daß die ihre
räum von ihren, schon im Palaeolithikum einsetzenden Tochter suchende Mutter zunächst nichts mit einer Gefigürlichen
Vorläuferinnen bis zu ihren astraltheologi- treidemuhme und primär weder Mutter noch Tochter et-
schen Spätformen in der Römerzeit zu skizzieren. Dabei was mit dem Vegetationszyklus zu tun haben, sondern
verfolgt er mit einem bis zur letzten Seite nicht nachlassen- alle derartige Assoziationen erst sekundär und partiell
den und den Leser in seinen Bann ziehenden Tempera- sehr spät mit ihnen verbunden sind. Entsprechend sollte
ment die Absicht, gewisse, teils auf einzelne Disziplinen in der Forschung sorgfältiger als bisher zwischen primärer
beschränkte, teils quer durch die Altorientalistik, Alter- Bedeutung und sekundärer Uminterpretation der Gestaltung
- und Religionswissenschaft laufende, zu Dogmen ten und mit ihnen verbundenen Mythen und Mytholo-
verfestigte Hypothesen durch provozierende Gegenthesen gerne unterschieden werden. Diese findet immer dann
in Frage zu stellen und damit die Spezialisten zu einer statt, wenn der ursprünglich mit ihnen verknüpfte Erleb-
Neuüberprüfung ihrer Befunde zu nötigen. Dabei kommt nisgehalt durch eine einschneidende Änderung der Lebens-
Helck die aus seinen früheren Arbeiten resultierende Ver- Verhältnisse seine Bedeutung verloren hat. Schließlich ist
trautheit mit der Religion und Kultur der unmittelbaren zu beachten, wie sich einerseits in der vor- und unlitera-
Anwohner des östlichen Mittelmeeres von Ägypten über rischen Volksvorstellung bestimmte, in dem vorliegenden
Syrien bis nach Kleinasien ganz offensichtlich zustatten1. Fall an Figürchen gebundene numina durchhalten, eine
Seine intensive Beschäftigung mit Ägypten und neuer- Grundströmung, aus der die Göttergestalten der Theolo-
dings sichtbar auch mit den Hethitern befähigt ihn, mit gie je und je aufsteigen, um dann für eine bestimmte Zeit
frischem Blick auf die angrenzenden Phänomene zu ihre Eigenentwicklung anzutreten. Es gibt demnach nicht
sehen und die unter der Oberfläche verlaufenden Zu- nur theologische Zusammenhänge samt all ihren ge-
sammenhänge aufzudecken. So entsteht unter der Hand schichtlich bedingten Überlagerungen und Verschiebun-
nicht nur eine Geschichte des alten Geschwisterpaares der gen, sondern auch Neudurchbrüche, die von den Theo-
Großen Göttin und des Wettergottes in all ihren Wand- logien nicht beachtete und bedachte Gestalten plötzlich
lungen, sondern auch eine Geschichte des Nachlebens der theologiefähig machen. Das läßt sich auf der weiblichen
vorgeschichtlichen Ostmittelmeerkultur, die dabei selbst Seite besonders eindrücklich bei der in der Hammurabi-
in gewissen Grundstrukturen aus dem Zwielicht der Frühe Zeit von den Amoritern eingebrachten Sala, in der plötz-
aufleuchtet. Das bei einem solchen Vorhaben notwendige lieh wieder das nackte Idol der ihre Brüste haltenden Frau
Wechselspiel zwischen exakter Interpretation des Befun- erscheint, und bei der in der Ramessidenzeit hoffähig ge-
des - besonders mustergültig in der durch 156 Zeichnun- wordenen Qadschu beobachten.

gen unterstützten Typengeschichte der Figürchen der Als die entscheidende, hinter der Gestalt der Großen

nackten, ihre Brüste haltenden Frau durchgeführt2 - und Göttin und des ihr primär geschwisterlich zugesellten

notwendig hvpothetischem Rückschluß auf eine vor- Wettergottes stehende Erfahrung hätten wir nach Helck

literarische Gesellschaftsordnung, von der her sich die das gleichberechtigte und geschwisterliche Nebeneinander

späteren Mytholngeme erklären, findet seine Rechtferti- von Männern und Frauen einer Gruppe als dem fundamen-

gung, wenn die Hypothese sich geeignet erweist, die. zer- talen gesellschaftlichen Prinzip der vorgeschichtlichen

streuten, zeitlich und örtlich getrennten Befunde in ihrem Ostmittelmeerkultur anzusehen, das vorwiegend auf eine

sachlichen Zusammenhang verständlicher zu machen, exogame Partnerwahl ausgerichtet war und entsprechend

ohne daß der Interpret zu einer offensichtlichen Ver- dazu führte, daß sich nicht nur die Männer ihre Frauen

gewaltigung seiner Befunde, und zumal seiner Texte, ge- raubten, um sie nach der Vereinigung als Sklavinnen der

nötigt ist. eigenen Gruppe zu inkorporieren, sondern auch die Frauen

Von Helcks Ergebnissen seien hier zunächst die in den fremde Jünglinge betörten, sich mit ihnen vereinigten und

Vordergrund gerückt, die am meisten den überkommenen nach der Vereinigung töteten. Dabei ergeben sich die

Theorien widersprechen. So haben wir nach ihm in der Randpaare der ihre Tochter suchenden Mutter - .Demeter

Gestalt der Großen Göttin primär eine Individualisie- und Persephone', vielleicht schon in den Doppelfigürchen

rung der unter bestimmten Umständen als numinos er- des Natufian belegt - und der ihren Bruder beweinenden

fahrenen weiblichen Aggressivität und Sexualität, aber Schwester. Schließlich haben wir als ein anderes, sich

nicht des Fruchtbarkeitsaspektes. zu erkennen. Weiter durch den es auslösenden Schock tief in das Gedächtnis des

handelt es sich bei der Mutter Erde keineswegs um eine frühen Menschen einprägendes Ereignis den Tod des

frühe, gar schon vorgeschichtliche Größe, sondern erst um jungen Hirten anzusehen, der von wilden Tieren zerrissen

eine hellenistische Neubildung unter griechischem Ein- worden ist, wenn wir auf der einen Seite die mit dem Ge-

flnß. Werden Kvbele und die ephesinische Artemis später schwisterpaar der Großen Göttin und des Wettergottes

als Göttermutter bezeichnet, betont das Epitheton ledig- verbundenen Mvthologeme und Riten und auf der ande-

lich ihre Eigenart als älteste Göttin. Dabei gelingt es ihm ren Seite die Mythe vom sterbenden hingen Gott von

unter Aufnahme einiger Beobachtungen von Bossert, die ihrem Ursprung her verstehen wollen. - Daß es sowohl bei

Brüste der zuletzt genannten Göttin über verschiedene den kiemasiatischen Bergvölkern früh zu göttlichen

Zwischenstadien auf die Flecken des Pantherfells früher Familienbildungen kommt wie bei den Semiten mit ihrer

kleinasiatischer Idole und damit letztlich auf den die Göt- ebenfalls patriarchalischen Gesellschaftsordnung zu aller-

tin einst begleitenden Panther zurückzuführen3. Daß es lei Überlagerungen, bietet kaum einen Anlaß zu Verständ-

sich bei der „Herrin der Tiere" wie dem „Herrn der Tiere"^, nisschwierigkeiten. Als ein spezifisches, aus der Frühzeit

im griechischen wie im minoisch-mykenischen Bereich unv der semitischen patriarchalischen Gesellschaft nachwirkeneine
aus einer unzulässigen Verallgemeinerung von|*jJ^. des Schockerlebenis dürfen wir die aus der potentiellen
II,XXI, 470 gewonnene Erfindung der Gelehrten handeltsexuellen Konkurrenz zwischen Vater und Sohn resul-