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1973

Kategorie:

Kirchenrecht

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Theologische Literaturzeitung 98. Jahrgang 1973 Nr. 8

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Rechtsquellen des mittelalterlichen französischen Rechts.
Als private Aufzeichnungen von Landschaftsrechten (coutu-
mes) des nördlichen Frankreich entsprechen sie den etwa
gleichzeitig im deutschen Bereich entstandenen Rechtsbüchern
Sachsenspiegel und Schwabenspiegel. Entwicklungsmäßig
gehören sie also in die Reihe der Rechtsquellen, die
aus dem immer stärker werdenden Bedürfnis nach schriftlicher
Fixierung des geltenden Rechts entstanden waren, wie
das als gesamteuropäischer Vorgang um die Zeit von 1220
bis 1320 zu erkennen ist. Diese Coutumiers vermitteln mit
ihren zahlreichen Bestimmungen auf vielen Gebieten des
Rechts einen guten Einblick in den Rechtszustand der einzelnen
territorialen Gebiete Mittel- und Nordfrankreichs,
wobei die Grenze nach Süden etwa eine Linie in der Höhe
der Gironde-Mündung quer durch Frankreich nach Osten
bildete, sie ist gleichzeitig eine Grenze, die Frankreich bis
1789 in zwei Rechtsprovinzen teilte, in die Pays du droit
coutumier im Norden und in die Pays du droit ecrit im Süden
. Dabei wurde unter „droit ecrit" das französische Recht
römischen Ursprungs und unter „droit coutumier" französisches
Gewohnheitsrecht fränkischen Ursprungs verstanden.

Die Verfasser dieser Coutumiers waren überwiegend Praktiker
, meist Richter, die das geltende Recht, d. h. das lokale
Gewohnheitsrecht, aber auch königliche Ordonnancen (Verordnungen
) und gerichtliche Entscheidungen aus eigener
Tätigkeit kannten und in ihren Aufzeichnungen verarbeiteten
. Das älteste Rechtsbuch dieser Art ist der Tres ancien
coutumier de Normandie, im ersten Teil um 1200, im zweiten
um 1220 entstanden. Das bedeutendste Werk unter den
coutumiers sind dagegen die 1283 abgeschlossenen und in
der Landessprache abgefaßten Coutumes de Beauvaisis, einer
Landschaft nördlich von Paris. Dem Verfasser Philippe de
Beaumanoir (um 1250-1296), bailli (königlicher Amtsträger)
der Grafschaft Clermont en Beauvaisis, wird im französischen
Bereich etwa die gleiche Bedeutung zugemessen wie
im deutschen Bereich Eike von Repgov, dem Verfasser des
Sachsenspiegels.

Spezieller Untersuchungsgrund des Vf.s ist das Familienrecht
der Coutumiers, wobei es sehr verdienstvoll ist, daß
er ständig auf die Parallelentwicklung im deutschen Bereich
hinweist und damit einen Beitrag für die in Zukunft an Bedeutung
zunehmende geschichtliche Rechtsvergleichung leistet
. In diesem Zusammenhang ist ferner sein Bemühen hervorzuheben
, immer wieder den um diese Zeit sehr starken
Einfluß des kanonischen auf das weltliche Familienrecht herauszustellen
, der allerdings, wie Vf. nachweisen kann, in
den einzelnen Coutumiers unterschiedlich stark zur Wirkung
gelangt, was nicht zuletzt auf das zeitliche Gefälle in der
Entstehung dieser Rcchtsquellen zurückgeführt werden muß.

Im ersten der beiden Hauptteile werden das Eherecht (S. 13
bis 92), also die Ehevoraussetzungen, die Eheschließung,
die persönlichen Rechtsbeziehungen der beiden Ehegatten
während der Ehe sowie die Trennung einer Ehe behandelt,
wobei er den Folgen der Eheschließung für die Rechtsstellung
der Frau einen umfangreichen Abschnitt widmet (S. 57
bis 92). Im zweiten Teil befaßt sich der Vf. mit dem Ehegüterrecht
(S. 93-166), d. h. mit den vermögensrechtlichen
Beziehungen zwischen den Ehegatten. Eine besondere Zielstellung
ist dabei die Klärung der Frage, „ob es in Frankreich
im 13. Jh. eine Gütergemeinschaft gab oder nicht".

Im einzelnen kommt der Vf. zu interessanten Ergebnissen.
So kann er nachweisen, daß ebenso wie in anderen europäischen
Staaten auch in Frankreich der Vorrang des kanonischen
Rechts in Ehesachen grundsätzlich unangefochten
war, daß sich die Coutumiers aber in Einzelfragen ihren
eigenständigen Charakter bewahrt hatten, so z. B. bei der
Verlobung, im Hinblick auf Strafklauseln beim nichteinge-
haltenen Eheversprechen, in der Betonung des Beilagers als
dem zweiten Element der Eheschließung neben dem gegenseitigen
Einverständnis der Ehepartner. In anderen Fragen,
insbesondere bei den Ehehindernissen, besteht zwar in den

Voraussetzungen eine Übereinstimmung zwischen weltlichem
und kirchlichem Recht, nicht immer dagegen in den
Rechtsfolgen. Aus weiteren Beispielen ist schließlich zu entnehmen
, daß die bisher geläufige weltliche Regelung durch
kirchliche Anschauungen zurückgedrängt wurde, so z. B.
die Zustimmung des Lehnsherrn zur Heirat seiner Vasallen
bzw. des Grundherrn bei der Eheschließung seiner Hörigen.
In längeren Ausführungen geht der Vf. auf die Rechtsstellung
der verheirateten Frau ein. Diese unterstand im Frühmittelalter
dem Sippenverband, der über sie die Vormundschaft
ausübte. Darin trat auch unter dem Einfluß kirchlicher
Vorstellungen im 13. Jh. insofern eine Änderung ein,
als die Ehefrau seither in ihrem Rechtshandeln wie in ihrer
persönlichen Stellung dem Willen des Ehemannes unterworfen
war. Damit trat vorübergehend eine geringfügige Besserstellung
der Ehefrau ein, die aber unter dem Einfluß des
vordringenden römischen Rechts bald wieder rückläufig verlief
. Aus den Coutumiers läßt sich ablesen, daß die Ehefrau
als Klägerin oder als Beklagte auftreten durfte, daß sie aber
stets von der Zustimmung des Ehemannes abhängig war.
Auch ihre freiere Rechtsstellung bei Abschluß von Rechtsgeschäften
war ständig durch die Berechtigung des Ehemannes
gefährdet, die abgeschlossenen Geschäfte annullieren
zu können. Sehr eingeschränkt waren und blieben die
Rechte der Ehefrau in Lehnssachen. Insgesamt gesehen, kann
man aus den Coutumiers auf keine einheitliche Regelung
der Rechtsstellung der Ehefrau im 13. Jh. schließen. Die jeweiligen
Verbesserungen in den einzelnen französischen
Rechtsquellen waren von praktischen Erwägungen bestimmt.

Nach gründlichen Untersuchungen kommt Vf. im zweiten
Hauptteil zu dem Ergebnis, daß die auch in jüngster Zeit
noch zu findende Ansicht, es habe im Frankreich des 13. Jh.s
zwischen den Eheleuten eine Gütergemeinschaft im Sinne
einer Fahrnis- und Errungenschaftsgemeinschaft bestanden,
nach der Quellenlage nicht haltbar ist. Das eingebrachte
Stammvermögen an Grundstücken blieb im Eigentum des
einbringenden Ehegatten; die Fahrnis, d. h. die beweglichen
Sachen, eingebracht oder während der Ehe erworben, fiel
in das Eigentum des Ehemannes. Nur die während der Ehe
erworbenen Grundstücke besaßen die Eheleute gemeinschaftlich
zur gesamten Hand.

Mit dieser Arbeit gibt Vf. einen guten Einblick in die Coutumiers
des 13. Jh.s, die er sachkundig auszuwerten versteht.
Da er französisch- wie deutschsprachige Interessenten mit
dieser Problematik vertraut machen möchte, wäre für beide
Gruppen eine zusammenfassende Gesamtwürdigung sicher
von Vorteil gewesen, was den Dank, den wir dem Vf. für
seine gründliche Untersuchung schulden, keineswegs schmälern
soll.

Halle Saale Rolf Lieberwirth

Dolezalek, Gero: Die handschriftliche Verbreitung von
Rechtssprechungssammlungen der Rota (ZSavRGkan 89,
1972 S. 1-106)

Fowler, Linda: Innocent Uselessness in Civilian and Canonist
Thought (ZSavRGkan 89, 1972 S. 107-165)

Ganzer, Klaus: Zur Beschränkung der Bischofswahl auf die
Domkapitel in Theorie und Praxis des 12. und 13. Jahrhunderts
(ZSavRGkan 88, 1971 S. 22-82. 89, 1972 S. 166
bis 197)

Honecker, Martin: Visitation (ZevKR 17, 1972 S. 337-358).
Lorch, Theo: „Ach, diese vielen Alten!" (PB1 113, 1973 S.
205-213)

Mühlmann, Sieghard: Luther und das Corpus Iuris Canonici
bis zum Jahre 1530. Ein forschungsgeschichtlicher Überblick
(ZSavRGkan 89, 1972 S. 235-305)

Mühlsteiger, Johannes: Der Kampf der Salzburger Kirche
um das Einweisungsrecht in die Temporalien (ZSavRGkan
89, 1972 S. 198-234)

Pirson, Dietrich: Grundrechte in der Kirche (ZevKR, 17 1972
S. 358-386)