Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1973

Spalte:

630-632

Kategorie:

Kirchenrecht

Autor/Hrsg.:

Gräfe, Reinald

Titel/Untertitel:

Das Eherecht in den Coutumiers des 13. Jahrhunderts 1973

Rezensent:

Lieberwirth, Rolf

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

623

Theologische Literaturzeitung 98. Jahrgang 1973 Nr. 8

630

Statt dessen möchte ich mir erlauben, nur ein paar wörtliche
Zitate anzuführen, die die Präzision der Formulierungen
wie die Entscheidungsfreudigkeit der Vf. am Ende ihrer
gründlichen Überlegungen erkennbar machen. Sic können
nicht in ihrem jeweiligen Zusammenhang wiedergegeben
werden, sondern sollen für sich selber sprechen. Zu Recht
und Grenze kirchlicher Gesetzgebung überhaupt: „Es fehlt
leider an einer juristischen Lehre von der kirchlichen Gesetzgebung
, die deren besonderem Leben und damit auch ihren
besonderen Grenzen befriedigend gerecht würde." „Es ist
eine paradoxe Nachblütc säkularen und im säkularen Bereich
überwundenen Rechtsdenkens, wenn sich der kirchliche Gesetzgeber
heute um seine Grenzen keine Gedanken macht"
(140). Zur relativen Bedeutung der Verfassung in einer Kirche
, die auch die „Durchbrechung" der Kirchenordnung mit
einer für Verfassungsänderungen gegebenen Mehrheit ermöglicht
, wird festgestellt, daß „die Kirchenverfassung gegenüber
der größeren Unabdingbarkeit des Kirchenwesens
von unverhältnismäßig geringerer Bedeutung ist als die
Staatsverfassung gegenüber der politischen Welt" (25).

Bei der Betonung der Notwendigkeit einer sachgemäßen
Ausbalancierung aller Verfassungsfaktoren in der Kirche
wird erklärt: Daß die Synode „Trägerin der Kirchengewalt"
sei, ist „ein juristisches Mythologem, das dadurch nicht wahr
geworden ist, das es leider in einige Kirchenverfassungen
eingedrungen ist" (23). Bei einem starken Eintreten für die
Rechte der Kirchengemeinden wird doch eindeutig zum Ausdruck
gebracht: „Es ist kongregationalistische Denkweise,
den Wirkungskreis der Gemeinde als unantastbar im Sinne
gemeindlicher Souveränität' zu betrachten" (97). Nachdem
die sog. Selbstverwaltung der Gemeinden erst seit 1873 in
Analogie zu der Selbstverwaltung der Kommunalgemeinden
auf dem Hintergrunde ihrer finanziellen Autarkie begründet
worden ist, wird auf den „kategorischen Imperativ"
neuen Bedarfs hingewiesen, der sich „auch gegenüber einer
auf andere Verhältnisse zugeschnittenen Rechtslage durchsetzen
muß" (89). „Pastoraler Eigensinn und presbyteriale
Engherzigkeit" dürfen einer „dringend notwendigen kirchlichen
Zusammenarbeit" keine Hindernisse in den Weg stellen
(105). Gegen das westdeutsche Kirchensteuersystem werden
erhebliche Bedenken vorgetragen: „Wenn die Geldabgabcn
der Gemeindeglieder an die Kirche Gaben der Liebe sein
sollten, so kann dafür bei heutigen Kirchensteuern und vollends
beim Lohnabzugsverfahren kaum mehr die Rede sein,
und wenn die Verwendung dieser Mittel in brüderlicher
Nähe stattfinden sollte, so ist die zentralisierte Finanzausgleichs
- und Ausgabenwirtschaft der Landeskirchen ggf. von
diesem Ideal weit entfernt. Die Kirchen empfinden diesen
Mangel ihres Finanzierungs- und Verteilungssystems
schmerzlich und haben sich nur schweren Herzens dazu entschlossen
" (85). Auf diesem Hintergrund muß man einmal
die Versuche der Evangelischen Kirchen in der DDR sehen,
neue Wege der Finanzierung und des Umlageverfahrens
zu beschreiten. Unter Hinweis auf Ziffer 3 der Erklärung zur
Rechtslage der Barmer Bekenntnissynode wird der Grundsatz
bekräftigt: „Es gibt nicht nur keine absolute Trennung
von wirtschaftlicher Verwaltung und seelsorgcrlicher Leitung
der Gemeinde, sondern überhaupt keine Möglichkeit
solcher grundsätzlichen Trennung" (115). Zum Sinn der
kirchlichen Visitation i „Die Kirchenvisitation ist... heute
nicht mehr als ein Ausfluß behördlicher Aufsichtspflicht, sondern
als eine Bekundung gliedhafter Verbundenheit der Gemeinden
untereinander anzusehen" (95).ZurBesonderheit des
kirchlichen Disziplinarrechts, das ja so häufig als der Kirche
fremde Handhabung von Macht angesehen wird: „Es verlangt
von der Kirche die Freiheit in der Verfahrensgestaltung
nach Maßgabe der Erfordernisse kirchlichen Rechts und
kirchlichen Lebens und möglicherweise weitergehende Ansprüche
an die Offenheit des Angeschuldigten und an seine
Pflicht, zur Aufklärung des Sachverhalts mitzuwirken, als
das staatliche Straf- und Disziplinarverfahren sie kennt"

(194). Das ist ein bis heute unerfülltes Programm!

Natürlich haben solche kirchenrechtlichen Gutachten, die
sich auf einen Zeitraum von über 20 Jahren erstrecken, auch
ihre Grenzen. Die Herausgeber weisen selber darauf hin, daß
hier nicht einfach wissenschaftliche Abhandlungen vorliegen,
sondern gewissermaßen „Akteninhalte in ihrer historischen
Bedingtheit" (Vorwort). Es wird deswegen immer wieder
auf Literatur hingewiesen, in der die jeweiligen Probleme
ausführlicher behandelt worden sind. Es handelt sich also
nicht um ein Lehrbuch des Kirchenrechts, von denen es ja
aus alter und neuer Zeit eine große Anzahl gibt. Aber die
Art und Weise, wie hier einzelne Fälle behandelt werden,
macht dieses Buch doch zu einer Art „Modell-Studienbuch".

Die Vf. haben als Kirchenjuristen in dem Bemühen, das
gleichbleibend Spezifische der kirchenrechtlichen Aufgabe
in ihrer freilich „verschieden starken theologischen Beziehung
" zu erkennen, in ständigem Gespräch mit Theologen
gestanden. Es fällt auf, daß in diesem Bemühen die Kontinuität
mit der Geschichte des Kirchenrechts mehr Pate gestanden
hat als die theologische Besinnung über den Ort des
Rechts in der Kirche. Die eigentliche „rechtstheologische" Arbeit
der letzten 25 Jahre in ihrer grundsätzlichen Bedeutung
ist in diese Gutachten nur annäherungsweise eingegangen,
wahrscheinlich weil deren Anwendungsmöglichkeit in der
kirchenrechtlichen Praxis noch nicht wirklich erprobt ist. In
einem Gutachten heißt es: „Weil die Gegenposition einer
durchgebildeten kirchlichen Begriffswelt zwar längst gefordert
, aber noch nicht gewonnen ist" (139).

Das Institut hat seine Gutachten in Göttingen erstattet und
westdeutsche kirchliche Organe sind die Fragesteller gewesen
. Die Antworten tragen auch der westdeutschen Wirklichkeit
Rechnung. Mit Ausnahme einer grundsätzlichen Auseinandersetzung
mit einem Aufsatz von U. Krüger in der Festschrift
für E. Jacobi über „Das Prinzip der Trennung von
Staat und Kirche in Deutschland" und damit über die Bedeutung
der Kirche als „Körperschaft öffentlichen Rechts" wird
auf die kirchlichen Gegebenheiten in der Deutschen Demokratischen
Republik nur gelegentlich hingewiesen. Die jüngsten
Entwicklungen bleiben völlig unberücksichtigt. Das
muß derjenige wissen, der aus diesem Buch Belehrung für
die Kirche in der DDR sucht. Das wird beispielsweise deutlich
, wenn gegen das Planungsrecht der Kirche im Pfarrstel-
lenbesetzungsverfahren zugunsten „des Lebensprinzips einer
Gemeindekirche" polemisiert wird (in Auseinandersetzung
mit einem rheinischen Entwurf im Jahre 1952! S. 143). Heute
ist längst klar, daß ohne überlegte Planung eine wirkliche
Versorgung der Gemeinden gar nicht mehr möglich ist. Sie
muß nur basisnahe geschehen und die Gemeinden in eine
übergemeindliche Verantwortung mit einbeziehen.

Aber an der grundsätzlichen Bedeutung dieses Buches
ändert dies nichts. Das große rechtshistorische Wissen
und die grundsätzlichen Überlegungen machen es zu
einem handlichen Rüstzeug, das sich kein angehender Kirchenjurist
, nach Meinung des Rezensenten aber auch kein
Theologe, der für die Gesamtkirche Verantwortung trägt,
entgehen lassen sollte.

Magdeburg Heinrich Ammer

Gräfe, Reinald: Das Eherecht in den Coutumiers des 13.
Jahrhunderts. Eine rechtsvergleichende Darstellung des
französischen Ehepersonen- und Ehegüterrechts im Mittelalter
. Göttingen-Zürich-Frankfurt: Musterschmidt-Verlag
[1972]. 179 S. 8° = Göttinger Studien zur Rechtsgeschichte
, hrsg. v. K. Kroeschell, 6. Kart. DM 40,-.

Im Rahmen der neuen Schriftenreihe „Göttinger Studien
zur Rechtsgeschichte" wird mit dem Eherecht der Coutumiers
ein interessantes rechtshistorisches Problem aufgegriffen
und einer gründlichen wissenschaftlichen Betrachtung
unterzogen. Die Coutumiers gehören zu den wichtigsten