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Ausgabe:

1973

Spalte:

517-519

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Kuhn, Heinz-Wolfgang

Titel/Untertitel:

Ältere Sammlungen im Markusevangelium 1973

Rezensent:

Roloff, Jürgen

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Theologische Litcraturzeitung 98. Jahrgang 1973 Nr. 7

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Weipert, H.: Die „deuteronomistischen" Beurteilungen der
Könige von Israel und Juda und das Problem der Redaktion
der Königsbücher (Bibl 53, 1972 S. 301-339).

Weippert, Manfred: „Heiliger Krieg" in Israel und Assyrien.
Kritische Anmerkungen zu Gerhard von Rads Konzept
des .Heiligen Krieges im alten Israel" (ZAW 84, 1972
S. 460-493).

Zimmerli. Walther: Deutero-Ezechiel? (ZAW 84, 1972
S. 501-516).

NEUES TESTAMENT

Kuhn, Heinz-Wolfgang: Ältere Sammlungen im Markusevangelium
. Göttingen: Vandcnhoeck & Ruprecht [1971).
270 S. gr. 8° = Studien zur Umwelt des Neuen Testaments
, hrsg. v. K. G. Kuhn. 8. DM 35,-.
Die redaktionsgeschichtliche Arbeit am Markus-Evangelium
hat bislang unter einer erheblichen Unsicherheit hinsichtlich
der Gestalt des vom Evangelisten verarbeiteten
Materials gelitten. Zwar herrschte weitgehende Übereinstimmung
darüber, daß Mk nicht nur Einzelperikopen,
sondern bereits geprägte Sammlungen und Perikopenreihen
zur Verfügung gehabt habe, doch divergierte das Urteil
über Inhalt und Umfang dieser vormarkinischen Sammlung
ganz erheblich. Heinz Wolfgang Kuhn zeigt im Eingangsteil
seiner Untersuchung den Grund für diese Unsicherheit
auf: er liegt in der Anwendung unsachgemäßer Kriterien,
d. h. darin, daß man von der Endgestalt des Evangeliums
her literarkritisch und redaktionsgeschichtlich zurückfragte,
statt bei den kleinen Einzelstücken einzusetzen, um form
und überlieferungsgeschichtliche Kriterien für deren Zusammenwachsen
zu größeren Gruppierungen zu gewinnen. Diesen
letzteren Weg versucht nun seinerseits Kuhn zu gehen,
indem er die Fragestellung der klassischen Formgeschichtc
-vom Einzelstück auf einen Oberlieferungskomplex von
mehreren kleinen Einheiten" ausweitet (S. 47). Das heißt,
er setzt jeweils ein beim Einzelstück, um zu überprüfen,
ob es hinsichtlich seiner Form und seines Sitzes im Leben
in Affinität zu anderen ihm innerhalb des Mk-Ev zugeordneten
Stücken steht und ob diese Affinität stark genug ist,
um aus ihr bereits eine durch die konkreten Bedürfnisse
der gemeindlichen Praxis bedingte vorliterarische Zusammengehörigkeit
zu folgern. Kuhn will zwar die Möglichkeit
nicht ausschließen, daß auch formgeschichtlich verschiedene
Einzelstücke zu einem einheitlichen Zweck zusammenge
stellt werden konnten, doch bietet ihm das Mk-Ev dafür
keine Evidenz; mit vormarkinischen Sammlungen kann
seiner Meinung nach nur da gerechnet werden, „wo der
Sitz im Leben der Gemeinde für das Einzelstück und für
die ganze Sammlung der gleiche ist" (S. 48).

In vier „Studien" führt Kuhn die vormarkinischen Sammlungen
vor, die er mit diesem seinem methodischen Ansatz
ermittelt zu haben glaubt:

1. Eine Sammlung von Streitgesprächen in 2,1-3,6. Ihr
gehören vier Apophthegmata an, die ursprünglich jeweils
als zweigliedrige Wechselgespräche angelegt waren und in
denen praktische Probleme der Auseinandersetzung mit
jüdischen Fragen zur Sprache gebracht wurden, - nämlich
die Vollmacht zur Sündenvergebung (2, 1-12), die
Frage der Tischgemeinschaft mit Heiden (2,15-17), die
Fastenpraxis (2,18-20) und die Sabbatheiligung (2,23-28).
Charakteristisch für diese Sammlung ist der Menschensohn-
name als Vollmachtsbezeichnung. Mk 3,1-6 entspricht den
strengen formalen Kriterien des Streitgespräches nicht und
wird deshalb von Kuhn als sekundäre markinische An
fügung bestimmt.

2. Eine Sammlung von drei Gleichnissen in 4,1-34
(Säemann, Selbstwachsende Saat, Senfkorn), die in Stoff,
Darstellungsweise und Pointe eng verwandt sind: regelmäßige
, typische Vorgänge aus dem Bereich der Natur wer

den erzählt, wobei „in allen drei Gleichnissen eine Zer
dehnung des Bildes an der gleichen Stelle" (seil, zwischen
Aussaat und Schilderung des Ertrages) erfolgt, die den
Sinn hat, die gegenwärtige Lage der Gemeinde, die gekennzeichnet
ist durch den Parusieverzug, zu überwinden (S. 124).
Intention dieser Sammlung ist es, in der Anfechtung angesichts
einer negativen Gegenwartserfahrung tröstenden
Zuspruch zu vermitteln.

3. Eine Sammlung von drei durch paränetische Logien
erweiterte Apophthegmata in 10,1-45, in denen praktische
Fragen christlichen Lebensvollzugs geregelt werden: die
Stellung zum Reichtum (10,17-23.25), zur Ehe (10,2-12)
und zur Macht (10,35-45). Das primäre Interesse des
Evangelisten liegt nicht bei diesen Fragen selbst, sondern
bei dem im Rahmen dieser Sammlung mehrfach anklingenden
Motiv der Nachfolge (10,21.38 f. 45), das ihm die
Möglichkeit einer wirkungsvollen Kontrapunkticrung der
Leidensankündigungen gab.

4. Eine Sammlung von Wundergeschichten in 4, 35-6, 52,
deren Thema die Epiphanie der Macht des theios aner
Jesus gewesen sei. Kuhn vermutet als ihren Sitz im Leben
die missionarische Propaganda und sieht in ihr - unter
Übernahme der Thesen von D. Georgi - die Manifestation
einer Christologie, wie sie die von Paulus in Korinth bekämpften
falschen Apostel (2 Kor 10-13) vertreten hätten.
Besondere Beachtung verdienen Kuhns Versuche, die jeweiligen
Sitze im Leben zu konkretisieren. Er erkennt, daß es
nicht genügt, so, wie die Väter der formgeschichtlichen
Methode, aus der Analyse der Gattungen Schlüsse auf
deren soziologischen Hintergrund zu ziehen, sondern daß
es darüber hinaus notwendig ist, diese Schlüsse durch
historische Überlegungen zu flankieren, damit die formgeschichtliche
Arbeit davor bewahrt wird, sich in blutleere
Konstruktionen zu verlieren. So beschränkt sich Kuhn nicht
auf die herkömmliche pauschalisierende Redeweise von der
tradierenden Gemeinde, sondern rechnet mit einer starken
personalen Bindung der Überlieferung, wobei er vor allem
die Gruppe der „Lehrer" als mögliche Tradenten in Betracht
zu ziehen sucht. Der Nachweis, daß es sich bei der Sammlung
in 10,1-45 um Materialien handelt, die speziell vom
Stil solcher frühchristlicher Lehre geprägt sind, ist m. E.
dem Vf. in eindrucksvoller Weise gelungen, und Ähnliches
läßt sich wohl auch von der Rekonstruktion des Sitzes im
Leben der Gleichnissammlung in Mk 4 sagen, obwohl der
Versuch, sie auf eine einheitliche Thematik festzulegen,
m. E. doch etwas gewaltsam ist.

Viele Fragen läßt jedoch die Analyse der Streitgesprächsammlung
in Kap 2 offen. Es ist zwar ein brillanter exegetischer
Einfall, wenn Kuhn 2,28 („Also ist Herr der
Menschensohn auch über den Sabbat") zum Abschluß der
ursprünglichen Sammlung und zugleich zum thematischen
Schlüssel für alles Vorhergegangene erklärt und daraus
folgert, die vier Streitgespräche wollten die Vollmacht
der Gemeinde in den Fragen des Sabbats, der Sündenvergebung
, des Fastenbrauches und der Gemeinschaft
der Juden und Heiden auf die gegenwärtig wirkende
Vollmacht Jesu (= des Menschensohnes) zurückführen.
Doch die Texte sperren sich gegen diese These: ganz
abgesehen davon, daß nur 2,6 eine in etwa mit 2, 28 vergleichbare
Menschensohn-Aussage bringt, argumentiert nämlich
2, 20 (vorausgesetzt, daß hier überhaupt nachösterlichc
Gemeindepraxis legitimiert werden soll!) gerade nicht mit
der anhaltenden Bedeutung der Vollmacht Jesu (S. 94),
sondern vielmehr mit Jesu „Hinweggenommensein". Dafür
schließlich, daß es irgendwo eine stark heidenchristlich
durchsetzte Gemeinde gegeben hätte, die eine Menschen-
sohn-Christologie in der hier vorausgesetzten Weise vertreten
hätte, fehlen uns alle Anhaltspunkte.

Mit großen Schwierigkeiten scheint mir auch Kuhns
These belastet, daß die Streitgesprächsammlung ihren Sitz
im Leben in der innergemeindlichen Auseinandersetzunq