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Ausgabe:

1973

Spalte:

467-469

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Schreuder, Osmund

Titel/Untertitel:

Priester zur Geburtenregelung 1973

Rezensent:

Schulz, Hansjürgen

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Theologische Literaturzeitung 98. Jahrgang 1973 Nr. 0

468

Schreuder, Osmund, u. Jan llutjes: Priester zur Geburtenregelung
. Eine empirische Erhebung. München: Kaiser;
Mainz: Matthias-Grünewald-Verlag [1972]. 163 S. 8° =
Gesellschaft und Theologie. Sozialwissenschaflliehe Analysen
, hrsg. v. D. Goldschmidt, 0. Schreuder, T. Strohin,
u. L. Vaskovics, unter Mitarb. v. J. M. Lochman, T.
Luckmann, T. Rendtorff u. W, Zapf, 6. DM 22,-.
Osmund Schreuder, Professor für Religionssoziologie an
der Universität Nijmegen, und Jan Hutjes, wissenschaftlicher
Mitarbeiter am dortigen Institut für Angewandte
Soziologie, legen die Ergebnisse einer Untersuchung vor, die
1969 im niederländischen Klerus angestellt wurde. Parallel
mit Erhebungen in Kolumbien und den USA sollte die Einstellung
von in der Gemeindearbeit tätigen Priestern zur
Geburtenregelung befragt werden — in und nach der
Diskussion um die Enzyklika „Humanae vitae" von 1968.

Im Anhang des Buches finden sich Auskünfte über Fragebogen
, Auswertung und Repräsentativität der Untersuchung.
Trotz einer kleinen Verzerrung in „progressiver" Richtung
liegt eine hohe Zuverlässigkeit der Ergebnisse (838 ausgewertete
Fragebögen) vor. Schreuder — kürzlich dureb die
Herausgabe der holländischen Priesterbefragung zum Zölibat
„Der alarmierende Trend" bekannt geworden — kann mit
der vorigen Enquete vergleichen und eine Zunahme „normkritischer
" Einstellungen konstatieren (160 f). Die Ergebnisse
aus Kolumbien und den USA werden an wichtigen
Punkten verglichen. In der Einstellung zu den Kontrazcp-
tionsmitteln zeigt sich deutlich die Differenz der Situationen :
von den niederländischen Priestern halten sich nur 5 —12%
„strikt an die Lehre der Enzyklika, daß die Antikonzep-
tionalien nie erlaubt seien. Dagegen sind die Amerikaner
mit 50-65% und die Kolumbianer mit 70-80% Ablehnungen
viel orthodoxer" (67).

Kapitel 1 erläutert Problemstellung und Methode der
Studie (13 — 48). Eine soziologische Interpretation der
Enzyklika „Itumanae vitae" steht am Anfang und benennt
zwei Kriterien: 1. Die Enzyklika ist ein „volkskirchlichcs
Dokument" (im Sinne von Max Weber und Ernst Troeltsch).
2. Die Enzyklika vertritt eine „vorindustrielle Ehemoral":
„Zwar sind die modernen Auffassungen über Ehe, Familie,
Liebe, Sexualität und Fortpflanzung . . . nicht spurlos an
den katholischen Kirchenführern vorbeigegangen, dennoch
aber scheint die Kraft der Tradition so stark zu sein, daß
die alte Ehemoral sich zu einem erheblichen Teil zu behaupten
weiß und im Punkte der Geburtenregelungsmethoden
sogar den Ausschlag gibt" (15). Diese These wird
mit Hilfe eines Buchberichles belegt (J. T. Noonan jr. —
Contraception, 1966; deutsche Ausgabe: Empfängnisverhütung
. Geschichte ihrer Beurteilung in der kath. Theologie
und im Kanon. Recht, Mainz 1969). Noonan zeigt, wie die
schrittweise Abwendung der Morallheologie vom Augustinismus
seit dem 15. Jh. zu einer Lockerung des Bandes
zwischen Sexualität und Fortpflanzung führte, die Ablehnung
der Kontrazeptionsmittel aber inkonsequenterweise
zunahm. „Humanae vitae" versucht Liebe und Fortpflanzung
in der Ehe durch eine „Gleichgewichtstheorie" (32) streng
zu verknüpfen. Schreuder und Hutjes weisen darauf hin,
daß der Schutz des „pastoralen Mechanismus der Familie"
und die Ablehnung der Antikonzeptionalien „zusätzlich eine
ideologische Funktion für die institutionellen Autoritätsinteressen
haben" (39). Das Kapitel schließt mit der Erläuterung
der Arbeitshypothesen für die Erhebung. Ausgangsfrage
ist, welche Verwirklichungschance „Humanae
vitae" in der Sicht der niederländischen Priester hat.
„Traditionsgemäß relativ enge Beziehungen" zwischen Laien
und Klerus sind voraussetzbar.

Das 2. Kapitel (49 — 70) geht dem Zusammenhang von
Geburlenregelungsmethoden und Seelsorge nach. Die Auswertung
der hier nicht darstellbaren Statistiken ergibt zwei
Tendenzen: 1. Nur etwa 25% der Laien lehnen die Antikonzeptionalien
im Sinne der Enzyklika ab; bei den Priestern
stehen nur 13% auf völlig, 22% auf „halb ablehnender"

Position, also zur Enzyklika. 2. Die Laien machen Uberwiegend
keinen Gebrauch mehr von der Beichte in diesen
Fragen; entsprechend erklären 82% der Priester, Beratung
d«r Eheleute bei der Wahl der Geburtenregelungsmethoden
sei nicht ihre Aufgabe. Die Gewissensentscheidung der Laien
wird dafür betont.

Das 3. Kapitel (71 — 100) beschäftigt sich mit der „kognitiven
Dissonanz" der Priester im Rollenkonflikt zwischen
Hierarchie und Gemeinden. Die Verfasser haben drei
Konfliktlösungsmechanismen gefunden: 1. Die Autorität der
Enzyklika wird behutsam heruntergespielt. So neigen 76%
der Priester „zu der Annahme, daß die Kirche auf die
Dauer doch nachgeben werden müsse" (77). 2. Die eindeutigen
Verbote von „Humanae vitae" werden abgemildert.
Für diesen Lösungsmechanismus spielte offensichtlich der
Hirtenbrief der niederländischen Bischöfe vom 31. 7. 1968
eine wichtige Rolle. 3. Die tatsächlichen Verhaltensweisen
der Gläubigen werden von den Priestern nach einem tendenziösen
Selektionsverfahren je nach Einstellungsteudenz
unterschiedlich eingeschätzt.

Das 4. Kapitel stellt das Eheverständnis dar (101 — 114).
Die Abweichung von der „Gleichgewichtstheorie" des Papstes
ist deutlich:

Bedeutung der ehelichen Sexualität Befragte v. Fl.

Liebe wesentlicher Zweck 49

Liebe primärer Zweck 37

Liebe und Fortpflanzung gleich wichtig 12

Fortpflanzung primärer Zweck 1

Fortpflanzung wesentlicher Zweck 1

zusammen 100

N 838 (S. 103).

Familienplanung wird von den Priestern als kulturelle
Selbstverständlichkeit angesehen (auch in Kolumbien und
den USA). Die Beurteilung des Zusammenhangs zwischen
Geburtenregelung und Weltbevölkerungsproblemcn igt unterschiedlich
.

Kapitel 5 (115 — 127) vergleicht das Kirchenverständnis
der niederländischen Priester mit ihrer Einstellung zur
Enzyklika. „Die klare Mehrheit der Pfarrseelsorger lehnt die
Universalitäts-, Autoritäts- und Exklusivansprüche der
Kirche stark oder sogar ganz ab und übt Kritik oder sogar
harte Kritik an deren überzogener Selbstorientierung. Zum
anderen aber gibt es in der oppositionellen und emanzipierten
holländischen Kirche noch eine deutliche Minderhell
von Priestern, die ... von der Institutionskritik weniger
begeistert sind "(117). Die deutlich kritische Haltung der
Priester zu „Humanae vitae" erfolgt durchaus nicht ins
einheitlicher Motivation; oft liegt keine theoretische Konsistenz
in der Begründung vor. Man wird sagen können, daß
„die Wandlungen in den Auffassungen von Priestern und
Volk über die eheliche Sexualmoral weniger als autonom-
theoretische Entwicklungen, sondern vielmehr als sozialkulturelle
Vorgänge zu deuten sind" (131).

Der Schluß (128-134) sieht das Anliegen Pauls VI. nicht
als erledigt an: das „Plädoyer für das Leben" bleibt als
prophetische Aufgabe. Autoritative volkskirchliche Argumentation
und vorindustrielle Moral stehen der Lösung
dieser Aufgabe im Wege.

Was bringt diese mikrosoziologische Untersuchung Neues r
Die sehr differenzierten Statistiken belegen die im niederländischen
Katholizismus wirksam gewordenen Verhaltensumstellungen
. Sie vermögen auch noch auf einen Zugzwang
der Priester aufmerksam zu machen, in dem der Klerus
steht. Unbeantwortet aber bleiben viele Fragen: In welcher
Richtung kann die hierarchische Spitze Konsequenzen
ziehen? Wie sieht der gemeinsame Lernprozeß von Gemeinden
und Pfarrern im einzelnen aus? Welche schöpfe-