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Ausgabe:

1973

Spalte:

461-464

Kategorie:

Religions- und Kirchensoziologie

Autor/Hrsg.:

Tilmann, Raban

Titel/Untertitel:

Sozialer und religiöser Wandel 1973

Rezensent:

Kaltenborn, Carl-Jürgen

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Theologische Literaturzeitung 98. Jahrgang 1973 Nr. 6

462

RELIGIONSSOZIOLOGIE

nimann, Raban : Sozialer und religiöser Wandel. Düsseldorf:
Patmos-Verlag [1972]. 139 S. 8° = Themen und Thesen
der Theologie. Kart. DM 14, — .

Bei dieser Untersuchung handelt es sich um die ungekürzte
Wiedergabe einer Würzburger Dissertation. Der
Autor, Jahrgang 1940, ist (nach Philosophie- und Theologie-
Btudium in Frankfurt, Würzburg und Paris) in Frankfurt
a- M. als Kaplan in der Gemeindearbeit tätig. „Methodisch
zählt sich diese Arbeit zum Gebiet der Religionssoziologie.
Zur Frage steht nicht das Wesen der christlichen Religion . . .
die Richtigkeit und Kontinuität, der christlichen Offenbarung
und die logische Verknüpfung ihrer Aussagen oder
weiterführende Imperative an die Kirche. Insofern ist die
Arbeit nicht rein theologisch. Diskutiert wird vielmehr
die soziale Gestalt der Instilutionen der christlichen Religion
in Europa . . . Andrerseits handelt es sich hier um keine
empirisch-soziologische Arbeit . . . Der Inhalt der Arbeit ist
eine auf empirischen Forschungen beruhende und an
«ie gebundene Theorie-Diskussion." Ziel der Unter-
Buchung ist es, „die Säkularisierungsthese zu überwinden
" (S. 14). (Hervorhebungen von uns!) Dabei baut
der Vf. auf der (Anfang der sechziger Jahre) gegen die
Arbeit der Kirchensoziologen einsetzenden Kritik von Tb.
Lachmann. J. Matthes und T. Rendtorff auf.

Hauptvorwurf gegenüber der Kirchensoziologie: sie hätte
»ihre Forschung zu stark an die Analyse vorfindlicher
kirchlicher Institutionen und Rollen gebunden" und wäre
so der Gefahr erlegen, „die Forschungsperspektive vorzeitig
einzuengen und die ganze Hreite der religiösen Phänomene
der Gegenwart zu verfehlen". Dabei sei besonders folgenschwer
„die ungeprüfte Übernahme der Säkularisierungsthese
als theoretischer Voraussetzung" (S. 13).

In der Forschungsrichtung, die mit den drei obenerwähnten
Namen verbunden ist, sieht Tilmann eine Alternative
, die „weit mehr Wirklichkeit" aufzuschließen vermag,
»als die Rede von der Säkularisierung" (S. 85).

Bei der Wiedergabe von Grundgedanken der Rendtorff-
schen Untersuchung „Zur Säkularisierungsproblematik"
wird deutlich, was T. unter dem Aufschließen von „weit
mehr Wirklichkeit" versteht: Es geht darum, „den Zusammenhang
zwischen dem rapiden Prozeß der Veränderung
und Umbildung in den Kirchen mit einem gesamtgesellschaftlichen
Wandlungsprozeß aufzudecken" (S. 78). Dabei
stellt sich heraus, daß die Kirchen „nicht so sehr global
eine ,Anpassung an die moderne Gesellschaft'" vollziehen,
»sondern eine Rezeption von Überlieferungen desjenigen
Christentums, dessen kirchliche Gellung in Deutschland seit,
dem Aufkommen der religiös-kirchlichen Reaktion nach 1848
zum Stillstand gekommen ist" (eb.).

Voraussetzung für diese These bildet die Behauptung, „daß
Wesentliche Teile des Christentums außerhalb der Kirche in
anderen Bereichen der Gesellschaft zu finden seien, religiöse
Werte also über die Grenzen religiöser Institutionen hinaus
ttnd in diese wieder hineinfließen können" (eb.). Für T. ist
diese „Vorstellung einer zweifachen Rückkopplung" das
Herzstück seiner Argumentation: „der Rückstrom der
historisch aus der Kirche verdrängten und den sozialen
Wandel mit beeinflussenden religiösen Werte in die Kirche,
('ie dort einen religiösen Wandel in Gang bringen; und der
Rückstrom der im religiösen Wandel veränderten Werte aus
der Kirche in andere Bereiche der Gesellschaft, die dort
den sozialen Wandel weiter anregen" (S. 118). Heute, „in
einer Zeit, in der die Kirche ihre totale Geltung in der
Gesellschaft verliert", wird der Weg frei „für die kirchliche
Rezeption jener Epoche des Christentums, das im Kon-
'rontationsschema Kirche-Gesellschaft zerrieben wurde. Nun
Wird es nämlich möglich, die zeitweise außerkirchlichen
sozialen und geistigen Traditionen in der Kirche selbst
durchzusetzen" (S. 79). Die Kirche, die lange Zeit „gegen-

iiber der Gesellschaft einen totalen Anspruch und universale
Zuständigkeitsforderungen erheben mußte (!) und
konnte und zur Aufgabe der Integrierung der Gesamtgesellschaft
durch allgemein verbindliche Orientierungen und
Maximen der Lebensführung herangezogen wurde" (S. 78),
wird im Zuge des gesamtgesellschaftlichen Wandlungsprozesses
von ihrer Rolle einer totalen Zuständigkeit entlastet
, (sie!), was sie dazu frei macht, solche religiösen Elemente
, die zuvor aus der Kirche herausgedrängt worden
waren, neu zu rezipieren. Der zur Debatte stehende Wandlungsprozeß
stellt sich bei dieser Retrachtungsweise nicht als
Befreiung der Gesellschaft vom sozialen Druck der Kirche
dar, vielmehr umgekehrt als Befreiung der Kirche vom
totalen Druck der Gesellschaft (!). Daraus ergibt sich für
T. wie für die Forschungsrichtung, der er sich verpflichtet
fühlt — entgegen der Rede von der Säkularisierung —,
„nicht die Auflösung der Kirche, sondern eine neue Lebendigkeit
" (S. 104). Das wird für T. damit belegt, daß die
Kirchen „neue, von der übrigen Gesellschaft als nichtreligiös
definierte Funktionen" übernehmen (S. 98). Dabei
verwischen sich nun aber „in der Zusammenarbeit mit vielen
Organisationen und Gruppen, die sich um den sozialen
Wandel mühen", nach Meinung des Autors „die eins!
deutlichen Fronten Emanzipation — Kirche und Atheismus
— christlicher Glaube immer mehr" (S. 102). „Der
,Atheismus' und das Christentum können unter diesen Umständen
keine isolierte Weltanschauung bleiben" (S. 116).
„Das Modell einer Gegenüberstellung von christlicher Vergangenheit
und säkularer Zukunft verliert seine Gültigkeit,
denn" — so meint T. — ,,die Zukunft ist der gemeinsame
Nenner aller Menschen. Seit das Christentum nicht mehr
die Aufgabe der Integrierung der Gesellschaft hat, verändert
es rasch seine Position und seine typische Gestalt:
es gibt nicht mehr Antwort auf alle Fragen der Menschen,
sondern weckt im Gegenteil die Fragen und hält sie wach,
die durch die Planung der Zukunft von Seiten anderer gesellschaftlicher
Kräfte verdeckt zu werden drohen" (S. 79f.).

Spätestens bei diesen letzten Sätzen dürfte klargeworden
sein, daß die Untersuchung Tilmanns selber ein eindrucksvoller
Beleg für den vom Vf. geäußerten Gedanken darstellt
, die Kirche hätte es seit Jahrzehnten gelernt, „den
sie bedrohenden (sie!) Wandel differenziert zu betrachten"
und „die starre Verteidigungsstellung gegen die Emanzipationsbewegung
verlassen" (S. 93).

In der Tat, was uns hier als religionssoziologische Theoriediskussion
vorgeführt wird, ist die äußerst flexible Apologie
einer sublimierten Vormundsrolle der Kirche gegenüber der
Gesellschaft, eine modern und ansprechend gestaltete
Variante des „Wächteramtes der Kirche". Jetzt hat man
eben nicht mehr Antworten parat. Man gibt sich bescheiden
als Dialogparlncr, insbesondere gegenüber „dem humanistischen
(!) Marxismus" (S. 116, vgl. dort auch A 59!).
Primus inter pares — unter dem allen gemeinsamen Hauptnenner
der „Zukunft"! Die Kirchen übernehmen „neue, von
der übrigen Gesellschaft als nichtreligiüs definierte Funktionen
" (S. 98) und reklamieren sie „als wesentlich religiös"
(S. 101): das Problem der weltweiten Integration (Friedensforschung
, Rassenfragc, internationale Eigentumsverteilung
werden genannt), das „Problem menschlicher Freiheit und
Würde inmitten von Planung und Apparat", „das Problem
gesellschaftlicher Außenseiter" (S. 91). In all diesen Fällen
tritt die Kirche als die Mahnerin gegenüber den emanzi-
patorischen Kräften auf, die die Tradition abzureißen
drohen „und die religiös-sittlichen Sinnfragen in gefährlicher
Weise" (sie!) unterschätzen (S. 46). Auf diesem Hintergrund
erscheint es T. gerechtfertigt, die Säkularisierungsthese
als überholt zu erklären.

Anhand einiger ausgewählter Beispiele wird von den
„Aktivitäten der Kirchen beim Problem des Rassismus, bei
der Veränderung feudaler Gesellschaftsslrukturen in Südamerika
und bei der Reform des Welthandels" gesprochen.
Die harten Auseinandersetzungen, die divergierenden An-