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Ausgabe:

1973

Spalte:

453-455

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Titel/Untertitel:

Zur Geschichte des Kirchenkampfes 1973

Rezensent:

Nowak, Kurt

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453

Theologische Literaturzeitung 98. Jahrgang 1973 Nr. G

454

Zur Geschichte des Kirclienkampfes. Gesammelte Aufsätze.
I. Güttingen: Vandenhocck & Ruprecht 1965. 324 S.
gr. »° = Arbeiten zur Geschichte des Kirchenkampfes,
hrsg. v. K. D. Schmidt f in Verb. m. H. Brunotte u.
E. Wolf, 15. Kart. DM 28,-.

Dieser ersle bereits vor acht Jahren in der AGK-Reihe
vorgelegte Aufsatzband (der zweite erschien 1971) konnte
nicht eher zur Anzeige gelangen, da der Tod dem ursprünglich
V|Hi:esehenen Rezensenten die Feder aus der Hand genommen
hat.

Der Band wird eröffnet mit einem Beitrag des Leipziger
Kirchenhistorikers Kurt Meier zum Problem der nationalsozialistischen
Religionspolitik (9 — 29). Der Tenor von M.s
Ausführungen liegt in dem Nachweis, daß Versuche, die
^ S-Religionspolitik (zunächst religionslose Indifferenz, dann
Werbung um die Kirche, hernach Versuch, sie „gleichzuschalten
", schließlich Distanzierung von ihr, um sie endlich
auszutrocknen und unschädlich zu machen) auf Formeln wie
üTarnung", „Enttäuschung", „Dämonisierung" zu bringen,
verfehlt sind: „man kann . . . die Dinge gar nicht differenziert
genug sehen" (25). Radikalen weltanschaulichen
Distanzierungskräften, wie z. B. Rosenberg und Bormann,
stand als Vertreter einer Synthese von Nationalsozialismus
und Christentum eine Gestalt wie Rcichskirchenministcr
Kerrl gegenüber. Aber auch unter den Distanzierungskräften
selbst waren die Vorstellungen über die Behandlung
der Kirchenfrage, wenn auch nicht in der Zielstellung, so
doch in den Methoden, unterschiedlich. Das Modell Warthegau
lehrte allerdings, welcher Methode mehr und mehr der
Vorzug gegeben wurde: „rechtliche und organisatorische
Drosselung des kirchlichen Lebens" (23). Zu den schwierigsten
Problemen in diesem Zusammenhang gehört die
Stellung Hitlers. Je nachdem, ob man in Hitler stärker den
Mach iavellisten betont, der Ideen und Glaubcnsgehalte nur
unter machttaktischem Kalkül wertete, oder bei ihm von
einem festen Ideenblock ausgeht, der sein ganzes Denken
und Handeln kontinuierlich und relativ folgerichtig bestimmte
, wird man die Akzente anders setzen müssen.
M. weist hauptsächlich auf Hitlers Zurückhaltung hin, die
einmal bedingt war durch taktische Erwägungen, zum anderen
dadurch, daß ihm die Kirchenfrage, je mehr ihn
Kriegspläne beanspruchten, „peripher und unwichtig" erschien
(25). Eine Lösung der Kirchenfrage wollte er, der in
seinen Tischgesprächen von der Kirche als einem brandigen
Glied sprechen konnte, das man abfaulen lassen müsse,
erst nach dem Krieg in Angriff nehmen. (Vorläufige) Zurückhaltung
, unterbrochen von zeitweiligem Desinteresse also
Verden von M. als die Hauptmomente von Hitlers Haltung
*H Religion und Kirche herausgestellt. Sic zu deuten und
zu werten hat zur Voraussetzung, das „Phänomen" Hitler
m seiner ganzen, nicht zuletzt auch psychologischen Vielschichtigkeit
noch viel stärker ins Spiel zu bringen. Das
konnte natürlich nicht Aufgabe eines solchen Aufsatzes sein.
Oie Forschung hat die Sicht der NS-Religionspolitik, wie
s'e M. hier schon Anfang der 60er Jahre entwickelt hat,
nur bestätigen können, was in Anbetracht der schmalen
Materialbasis, die ihm zur Verfügung stand, um so be-
merkenswerter ist. Der aus eigenem Miterleben gestaltete
Beitrag von Oskar Söhngen „Hindenburgs Eingreifen in
den Kirchenkampf" (30 — 44) behandelt die Phase der Einsetzung
von Landgerichtsdirektor August Jäger durch NS-
Kultusministcr Rust zum Staatskommissar sowie die damit
einhergehenden Machinationen Fricks und des damals noch
v°n ihm protegierten Ludwig Müller. Die Interventionen
^es „getreuen Eckart" (32) der evangelischen Kirche,
Bindenburg, konnten den Lauf der Ereignisse nur kurz-
istig und wenig nachhaltig beeinflussen. Wie wichtig eine
"^•fassende Darstellung der Vorgänge in der Evangelischen
Kirche der Altpreußischcn Union ist, wird an S.s farbiger
^ehilderung einmal mehr deutlich. Die Verzahnung der
*trchenpolitischen Ereignisse auf reichskirchlicher und APU-
t-oene, die in der von S. beleuchteten Phase durch die

„Machtergreifung" Ludwig Müllers bestimmt waren, bringt
es mit sich, daß eine wirklich erschöpfende Behandlung
der reichskirchlichen Vorgänge ohne intensive Berücksichtigung
der APU schwerlich möglich sein dürfte.

Die staatspolitische Seite der dramatischen Episode, die
als „Kanzlerempfang" in die jüngste Kirchengeschichte eingegangen
ist, stellt Jorgen Glcnt0j dar: „Hindenburg, Göring
und die evangelischen Kirchenführer" (45 — 69; Dokumente
70 — 91). Unter Hinzuziehung aller einschlägigen Dokumente
aus dem Bundesarchiv Koblenz, dem Document Center
Berlin und dem Bielefelder Archiv enthüllt G. die Hintergründe
jener von einer „effektvollen Theaternummer" (61)
Hitlers beherrschten Szene vom 25. Januar 1934 in der
Reichskanzlei. Da bisher für die Darstellung der spektakulären
Episode fast nur Quellen von kirchlicher Seite zur
Verfügung standen, konnte das Ränkespiel Hitlers und
Görings, der — wie G. glaubhaft macht — die Kirche zu
einer Staatskirche mit ihm als summus episcopus umzuformen
gedachte, nicht in seinem vollen Umfang durchschaut
werden. Der Blitzstrahl des Zornes, den Hitler auf
Niemöller niederfahren ließ (dessen — in seinem Wortlaut
von Göring arg verfälschtes — Telefongespräch vom Vormittag
zum willkommenen Anlaß nehmend), wird nun als
sehr vielschichtig motiviert durchschaubar. Hindenburg, der
durch seine Parteinahme für die kirchliche Opposition Hitlers
Unwillen erregt hatte, und ja auch sonst für den die Alleinherrschaft
anstrebenden „Führer" ein Pfahl im Fleische
war, mußte sich einen „unerhört scharfe(n) Ausfall" (61)
Hitlers gefallen lassen. Der kirchlichen Opposition schob
Hitler den schwarzen Peter des politischen Störenfriedes zu
und stützte ein weiteres Mal den Beichsbischof. Görings
Staatskirchenprojekt wurde freilich auch hinfällig. Unter
den anwesenden Kirchenführern hatte Hitlers Zornesausbruch
erhebliche Verwirrung zur Folge; zwei Tage später
wurden sie eine Beute Müllers. Hitler war auf der ganzen
Linie der Gewinner. Ohne sich selbst festzulegen, hatte er
die kirchliche „Geschlossenheit" vorübergehend noch einmal
hergestellt und überdies Hindenburg einen empfindlichen
Schlag versetzt. Heinz Brunotte legt mit dem Aufsatz „Der
kirchenpolitische Kurs der Deutschen Evangelischen Kirchenkanzlei
von 1937-1945" (92-145) einen bereits im Mai 1945
als Denkschrift, verfaßten Bericht vor, den er in seiner
Eigenschaft als Referent in der Kirchenkanzlei angefertigt
hatte. Nach dem Rücktritt des Reichskirchenausschusses
zu einer beachtlichen kirchenpolitischen Potenz geworden,
versuchte die Kirchenkanzlei, vor allem nach dem Abgang
des im Präsidialstil herrschenden Dr. Werner zur
Wehrmacht, unter Werners Stellvertreter Dr. Fürlc dem
von Staatssekretär Mulis gesteuerten Kurs staatskirchUcher
Vcrjuristung der Kirche (wirksamste Waffe: Finanzabteilungen
) zu begegnen. Der 1939 berufene Geistliche Vertrauensrat
wurde dabei mehr und mehr ihr Bundesgenosse.
Den den staatskirchlichen Ambitionen von Muhs entgegenstehenden
Plänen Kerrls („Fünf Grundsätze", „Arbeitskreise
" der Mitte, „Wiener Entwürfe") wird breiter Raum
gewidmet. Die Erschwernisse und Pressionen, denen sich
die evangelische Kirche in den Kriegsjahren ausgesetzt sah
(Pressewesen, Jugendarbeit, kirchliche Feiertage usw.),
werden an verschiedenen Reispielen aufgezeigt. Die apologetische
Tendenz in B.s Ausarbeitung ist unverkennbar:
auch den Lesern, die diesbezügliche inzwischen hier und
dort gemachte kritische Bemerkungen nicht kennen, wird
sie nicht entgehen.

Auf die übrigen Beiträge soll nur noch hingewiesen
werden. Günter Sodeikat: „Die Verfolgung und der Widerstand
der Evangelischen Kirche in Danzig von 1933 — 1945"
(146—172) hat sich ebenso wie Johann Bielfeldt: „Die
Haltung des Schleswig-Holsteinischen Bruderrates im
Kirchenkampf" (173 — 188) und Günther Härder: „Die
kirchenleitende Tätigkeit des Brandenburgischen Bruderrates
" (189 — 216) mit einem territorialgeschichtlichen Thema
beschäftigt. Der Altmeister der Kirchenkampfgeschichts-