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Ausgabe:

1973

Spalte:

451-452

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Obst, Helmut

Titel/Untertitel:

Der Berliner Beichtstuhlstreit 1973

Rezensent:

Gericke, Wolfgang

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Theologische Literaturzeitung 98. Jahrgang 1973 Nr. 6

452

KIRCHENGESCHICHTE: NEUZEIT

Obst, Helmut: Der Berliner Beichtstuhlstreit. Die Kritik
des Pietismus an der Beichtpraxis der lutherischen Ortho-
doxie.Witten: Luther-Verlag 1972. 151 S. gr. 8° = Arbeiten
zur Geschichte des Pietismus, hrsg. v. K. Aland, E.
Peschke u. M. Schmidt, 11. Lv. DM 34, — .
Wie der Verfasser (S. 145) selbst betont, ist der Berliner
Beichtstuhlstreit eine Episode in dem großen geistesgeschichtlichen
Bingen am Ausgang des 17. Jh.s, das die
Neuzeit einleitete. Am 16. 11. 1698 erließ Kurfürst Friedrich
III. von Brandenburg ein „Decisum Wegen der Freyhcit
Des Beicht-Stuhls", das nur für die Besidenzstädte Berlin
und Cölln Gültigkeit hatte. Hier wurde verordnet: Wer die
Privatbeichte aus Gewissensgründen ablehnt, sonst aber
einen christlichen Lebenswandel führt, darf nicht mehr wie
bisher vom Abendmahlstisch zurückgewiesen werden, muß
sich aber in der Woche vor dem Abendmahlsgang bei einem
Prediger anmelden. Damit war der in weiten Bereichen der
lutherischen Kirche herrschende Zwang zur Privatbeichte
als Voraussetzung für den Abendmahlsgang grundsätzlich
aufgehoben; die Beichtfreiheit hat sich dann mehr oder
weniger rasch überall durchgesetzt, was freilich in der
Folgezeit im evangelischen Baum praktisch zur Beseitigung
der Privatbeichte überhaupt geführt bat.

Das vorliegende Buch schildert, wie es zu der kurfürstlichen
Entscheidung gekommen ist. Daß die obligatorische
Privatbeichte abgeschafft wurde, ist in Berlin-Cölln zunächst
auf den Einsatz eines einzelnen zurückzuführen, des
Predigers Johann Caspar Schade (1666—1698), eines
Schülers August Hermann Franckes, seit 1691 unter Propst
Spener Dritter Diakonus an der Berliner Nikolaikirchc. Der
peinlich gewissenhafte und zu Depressionen neigende Geistliche
gerät bald wegen der herrschenden Beichtpraxis in
einen schweren Gewissenskonflikt. Von seiner pietistischen
Grundhaltung her auf echte Bekehrung und Sinnesänderung
bedacht, kann er sich mit der üblichen Massenabfertigung
im Beichtstuhl nicht abfinden, bei der nach Aufsagen einer
stereotypen Beichtformel unversehens auch die Unbekehr-
ten und innerlich Unbußfertigen absolviert werden. Von hier
aus kommt Schade bald mit seinen Amtsbrüdern und mit
der damaligen Kirchenleitung in Streit, wobei auch das bei
der Absolution zu entrichtende Beichtgeld — eine Einnahmequelle
der Geistlichkeit — eine Bolle spielt. Auch
das Berliner Zunftbürgertum, das besonders stark an der
alten Ordnung hängt, mischt sich ein und nimmt gegen
Schade Stellung. Spener als der zuständige Propst, innerlich
weitgehend auf Schades Seite, versucht zunächst zu vermitteln
, zeigt sich aber auf die Dauer den sich ausweitenden
Auseinandersetzungen nicht gewachsen. Der Vf. zeichnet in
klarer Darstellung und sorgfältiger Auswertung der Quellen
die einzelnen Etappen des Konfliktes nach, der schließlich
nach dem am 25. 7. 1698 erfolgten frühzeitigen Tode Schades
mit der obenerwähnten Freigabe der Privatbeichte durch
den Kurfürsten als den Summus Episcopus beendet wird.

Man muß in dieser Entscheidung zunächst einen ersten
Sieg des Pietismus gegenüber lutherisch-orthodoxer Theologie
und Praxis erkennen. Dies zeigt der Autor an der
Stellungnahme des Seniors der orthodoxen Wittenberger
Fakultät, Johann Deutschmann, der in umfangreichen
polemischen Ausführungen den lutherischen Kirchenbrauch
retten will, jedoch unfähig ist, die seelsorgerlichen und
persönlichen Nöte und Bedenken Speners oder gar Schades
zu verstehen. Der Autor schildert auch ausführlich, welchen
Einfluß der Berliner Beichtstuhlstreit auf den Kampf August
Hermann Franckes für die Beform des Beichtwesens in
Glaucha und Halle gehabt hat. Dabei muß aber deutlich
gesagt werden: Sowohl Francke wie auch Spener als auch
Schade wollen keine Aufhebung der Einzelbeichte — zu der
es dann unter dem Einfluß aufklärerischer Tendenzen aber
doch gekommen ist —, sondern ihre Beform durch Verschärfung
der Kirchenzucht unter Beachtung des Prinzips
der Freiwilligkeit. Im Unterschied zu dem schwerblütigeren
Schade; verstand es freilich Francke, den Beichtstuhl zu
einem wirksamen Instrument für die Durchführung seiner
Gemeindereform zu machen und ihn — allerdings unter
übersichtlicheren Gemeindeverhältnissen — als Gelegenheit
zu intensiver Seelsorge zu nutzen.

Daß sich in der Begelung der Beichtfrage pietistische Anliegen
durchzusetzen vermochten, ist aber, wie der Vf. zeigt,
nicht bloß das Verdienst Schades oder Franckes allein.
Verlauf und Ausgang des Berliner Beichtstuhlstreitcs wurden
auch sehr stark von sozialen und politischen Spannungen
bestimmt. Wir sehen dabei hinein in die sich anbahnende
Auflösung der bisherigen landständischen Ordnung und des
städtischen Zunftbürgertums, mit denen die alten Kirchenbräuche
unauflöslich verquickt waren. Das sich emanzipierende
Großbürgertum ist über diese aus dem Mittelalter
stammenden Bräuche hinausgewachsen. Der Pietismus, dem
Brandenburgische Staatsmänner wie E. v. Danckelmann
und v. Schwerin zuneigten, konnte sich außerdem nur im
Bündnis mit dem landesfürstlichen Absolutismus und dessen
Bürokratie gegenüber der mit der landständischen Opposition
verbündeten lutherischen Orthodoxie behaupten
(S. 147). Die Initiative von Schade kam auch der Religionspolitik
der Hohenzollern entgegen, die auf eine Annäherung
von Beformierten und Lutheranern abzielte; in der reformierten
Kirche war von Anfang an die allgemeine Beichte
an Stelle des katholischen Bußsakraments getreten. So
bringt der Autor den Berliner Beichlstuhlstreit in einen
größeren Zusammenhang; er stellt (S. 145, Anin. 1) selbst
noch eine weitere Zusammenfassung und gründliche Auswertung
seiner Arbeit in Aussicht.

Gegenüber dem an sich verdienstvollen Aufsatz von Georg
Simon: „Der Berliner Beichtstuhlstreit 1697 — 1698" (Jb.
f. Berlin-Brand. KG. 39.1964, S. 42-88) bedeutet das Buch
von Helmut Obst einen Fortschritt, insbesondere in bezug
auf verschiedene Korrekturen der Simonschen Darstellung
und der weiteren Auswertung des maßgeblichen Aktenstückes
(Deutsches Zentralarchiv Merseburg, Hist. Abt. II,
Repositur 47 B 4, Faszikel 18), auf das erstmalig Kurt
Aland in seinen „Speuerstudien" (Jb. f. Brand. KG. 36/7.
1941/2, S. 71, Anm. 2) hingewiesen hat. So ist z. Ii. .las
ausführliche Beferat, das Obst (S. 77 ff.) auf Grund dieses
Aktenstückes über die Einzelvolen bringt, die die Mitglieder
der kurfürstlichen Untersuchungskommission 1697
über den Beichtstuhlstreit abgegeben haben, ein wirkliches
Verdienst. Bisher war (neben der etwas summarischen Darstellung
Simons) lediglich das Gutachten Speners (wörtlich
abgedruckt bei Aland a.a.O. S. 136 ff.) in extenso bekannt
. Es wäre allerdings wünschenswert gewesen, wenn
Obst nun auch die Voten der anderen Kommissionsmitglieder
im Wortlaut zugänglich gemacht hätte, wie man
überhaupt die Beigabc anschaulichen Quellenmaterials etwas
vermißt. Auch von der Kirchenordnung Herzogs Ernst d.
Frommen von Sachsen-Gotha, durch die Schade beeinflußt
ist (vgl. S. 44), hätte man gern noch mehr gehört. Dankenswert
dagegen ist die intensive Heranziehung von Schades
in dessen „Geistreichen und erbaulichen Schriften", Bd.
(ed. 1720) enthaltenen Briefen und Sendschreiben, die bisher
noch nicht ausgewertet wurden. Es ist schade, daß dein
Buch ein Namens- und Abkürzungsverzeichnis fehlt. Im
Literatur-Verzeichnis habe ich vergeblich einen Hinweis auf
Th. Wotschke, Der märkische Freundeskreis Brecklings (Jb.
f. Brand. KG. 23-25.1928-1930) gesucht, der zahlreiches
Material zu Schade und zum Berliner Beichtstuhlstreit
bringt. Am Ende der Literaturangaben ist das kurfürstliche
„Decisum" von 1698 versehentlich unter die Verfasserangabe
„Wendland, W." geraten. — Druckfelder, die mir auffielen:
S. 40, Z. 11 v. o. lies: „neue" statt: „neuen"; S. 151, Z. 13
v. u. lies: „Phil." statt: „ML".

Doberlug-Kirchhain Wolfgang Gericke