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Ausgabe:

1973

Spalte:

441-442

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Kraus, Annie

Titel/Untertitel:

Der Begriff der Dummheit bei Thomas von Aquin und seine Spiegelung in Sprache und Kultur 1973

Rezensent:

Thümmel, Hans Georg

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Seite 1

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441

Theologische Literalurzeitung 98. Jahrgang 1973 Nr. (i

442

Kraus. Annie: Der Begriff der Dummheit bei Thomas von
Aquin und seine Spiegelung in Sprache und Kultur.

Münster/W.: Aschendorff [1971]. IV, 159 S. 8° = Aevum
Christianum. Salzburger Beiträge zur Beligions- und
Geistesgeschichte d. Abendlandes. Unter Mitwirkung v.
P. B. Thum hrsg. v. P. T. Michels, 9. Pp. DM 24,-.

Dieses Buch beinhaltet nicht, wie sein Titel vermuten
läßt, die Erforschung eines historischen Spezialissimum.
Vielmehr wird eine zentrale theologische Frage dogmatisch
Abgehandelt: Dummheit als schuldhaftes Verfehlen natürlicher
Gotteserkenntnis und rechten Tuns. Thomas kann
dazu den Leitfaden abgeben, da er als nicht hinterfrag-
bare, zeitlose Autorität vorausgesetzt ist (philosophia per-
ennis). Er wird als dogmatische, nicht als historische Größe
verstanden. Die Texte werden nicht kritisch exegesiert,
Vielmehr kreist das Denken eher meditierend um sie. Kommentierend
sind neuere Thomisten (J. Piper und K. Bahner)
herangezogen.

Die Zuwendung zum Sein geschieht in Demut und Liebe
als Gelten-lassen und Hingabe. Erkenntnis ist so dem umfassenden
Vermögen des Herzens, dem Willen zugeordnet.
Woll en gemäß der Vernunft, d. h. gemäß dem Sein, heißt
klug und gut sein (ens, verum, bonum convertuntur). Der
Geist findet über die Dinge sich selbst und verwirklicht so
sein Menschsein. Daß das Denken wirklich bei den Dingen
ankommt, wird letztlich durch die Identität von Denken und
Sein im Ipsum Esse Subsistens garantiert. Die Ausrichtung
*nf das Sein in seiner Fülle gilt auch dem Höchsten Sein,
das schon ursprünglich gewollt und erkannt wird. Der
Mensch ,,kann im Spruch des Ur-Gewissens liebend die
' i - Bejahung des Guten und damit auch des Höchsten Guten
als des Zielsinns menschlichen Seins und Tuns vollziehen"
(S. 11). Nicht nur menschliche Wahrheitserkenntnis überhaupt
ist unfehlbar, auch Gottes wird „jeder Mensch guten
Willens unweigerlich" inne (S. 56f). Verfehlen dieser Erkenntnis
geschieht aus einem verkehrten Wollen (gegen
bessere Einsicht). Dummheit ist die Weigerung, das sich
darbietende Sein, vor allem das Höchste Sein, liebend anzunehmen
, ist daher das Kardinallaster, Gottlosigkeit, Sünde,
genauer: Egoismus, Hochmut; sie entspringt zumeist der
1 Dzucht. Vf. stützt diese aus Thomas erhobene Meinung mit
dem entsprechenden Sprachbcfund in der deutschen und der
hebräischen Sprache. Da das Buch auf Konvergenz hin angelegt
ist. sind auch hier keine kritischen Studien zu erwarten
, die etwa Besonderheiten herausarbeiten und die
Vielfalt der geschichtlichen Erscheinung darstellen. Die
Dummheit hat einen materialistischen und einen spiritua-
üstischen Aspekt. Beiden ist gemeinsam, daß das Sein nicht
lr> seiner Ganzheit angenommen wird. Während die egoistische
luxuria den Menschen an das geistwidrige Materielle
verhaftet, mißt die un-vernünftige ichhafte superbia das Sein
nicht am Höchsten Sein, sondern am Subjekt. „Wie der
autarke philosophische Geist durch den unrechten, gott-
abgewandten Gebrauch des Abstraktionsvermögens einen
Kerker für sich errichtet, den Kerker der Immanenz, so
werden die materiell-irdischen Dinge dadurch, daß in den
s'ärksten Genüssen der luxuria ein unerlaubter Gebrauch
von ihnen gemacht wird, zu einem Kerker für den Menschen"
(S. 107).

Bei dem spiritualistischen Aspekt der Dummheit ist
Ipeziel] ,iu den deutschen Idealismus gedacht. Am Schluß
steht der Aufruf, gegenüber den modernen Formen der
luxuria sich in Klugheit für das Höchste Gut und Sein zu
entscheiden.

Die Kritik solcher Darlegung kann sich nicht am Detail
festhaken, sondern muß zur Frage nach Voraussetzung und
Methode überhaupt werden, wenn auch hier die erregte
Auseinandersetzung um den Neuthomismus nicht aufgegriffen
werden kann. Es mutet seltsam an, wenn zur selben
Zeit, da (las zweite Vatikanum ausdrücklich die Bibel-
Wissenschaftler ermuntert, die Aussagen der 111. Schrift von

den zeit geschieh iiichen Bedingungen her zu interpretieren,
Thomas unkritisch-zeitlos als Autorität vorausgesetzt wird.
Das soll an einigen zentralen Punkten verdeutlicht werden:

1. ist zu fragen, worauf sich eigentlich die natürliche
Gotteserkenntnis stützt. Vf.in setzt sie als zwingend voraus,
was ja doch kaum etwas anderes als einen Gottesbeweis
meinen kann. Die Begriffe des Höchsten Gutes, des Höchsten
Seins, der altissima causa verweisen auf die quinque viae
(S. th. 1/2/3). Diese aber basieren sämtlich auf der aristotelischen
Physik (und der aus ihr entwickelten Metaphysik),
die vor bald vier Jahrhunderten überholt wurde. Vf.in müßte
sagen, wie sie sich natürliche Gotteserkenntnis unter heuligen
Bedingungen vorstellt.

2. Die von der Vf.in geforderte Offenheit für das Sein ist
grundsätzlich zu bejahen. Wenn aber all das, was Natur- und
Gesellschaftswissenschaften seit Thomas erarbeitet haben,
beiseite gelassen wird (mit Ausnahme der Philologie), wenn
nur Konvergierendes zitiert, wenn alle historische Wirklichkeit
(etwa als philosophiegeschichtliche Situation) fibersehen
wird, dann muß doch gefragt werden, ob Vf.in selbst seinsgerecht
verfährt, oder ob sie sich nicht abstrakt-immanen-
tislisch innerhalb der thomistischen Theorie bewegt. Z. 11.
kann, ganz unabhängig davon, ob der Mensch von Natur
das Gute will, diese Frage — wenn erst einmal das Gute
bestimmt ist — nicht mit Thomas beantwortet werden,
sondern nur von der Psychologie, Soziologie, Verhaltensforschung
, etc. Damit würde auch Thomas mehr entsprochen,
der die modernste Bcalwisscnschaft seiner Zeit übernahm.
Experimentum solum certificat in talibus, sagt Albertus
Magnus (de veget. 6/1/1/1).

3. Sind die Gottesbeweise fraglich, ist auch das Denken
in Seinsstufen für die Vernunft nicht zwingend. Entweder
gibt der (an der Offenbarung orientierte) Glaube die Voraussetzungen
, die deduktiv abgeklärt werden können, oder aber
es muß gefragt werden, ob die Naturerkenntnis wirklich zur
Gotteserkenntnis führt. Diese Frage kann nur die Erkenntniskritik
lösen, und die Polemik, die Vf.in gegen Kant entfaltet
, erscheint daher nicht gerechtfertigt.

4. Thomas bezieht (mit Aristoteles) eine Position, die
zwischen einem strengen Bealismus (Anselm) und dem konsequenten
Nominalismus (Ockham) liegt. Damit wird er
wohl am ehesten der Wirklichkeit gerecht, rückt aber auch
unmittelbar neben Hegel. Wenn Vf.in Hegel vorwirft, daß er
Gott seiner Transzendenz beraubt habe, dieser ein „gänzlich
in die Welt und ihre Geschichte verimmanentierter Gott als
eine prozeßhaft sie selbst werdende Idee" sei (S. 95), dann
ist damit eine Gefahr angesprochen, von der auch der
Thomismus nicht frei ist. Immerhin ist (Duns' und) Oekhams
Voluntarismus ein Plädoyer für die Freiheit Gottes und als
Reaktion gegen ein rationales Konvenienzdenken zu verstehen
, das im Banne aristotelischer Argumentation den
persönlichen Gott zum Prinzip werden läßt.

Zuletzt bleibt die entscheidende Frage, inwieweit das dargelegte
Schema von Seinsaufbau und Seinserkenntnis theologisch
tragbar ist, und Rez. muß bekennen, daß er weder
die Aussagen des NT noch seine eigene Erfahrung hier
wiederfindet. Die Macht der Sünde, die Unverfügbarkeit
der Gnade, Erwählung und VerStockung, der Glaube, der
nicht sieht, der Geist, der weht, wo er will, das alles sind
Größen, für die er in dem dargelegten System keinen Platz
weiß. Vf.in schließt mit dem Augustinzitat vom Herzen, das
unruhig ist, bis es in Gott ruht. Ihre Ausführungen kennen
nur diese Ruhe, wissen aber nichts von dem unruhigen
Kampf, der zu ihr führt und den die Confessiones
beschreiben.

Das soll nicht heißen, daß Rez. nicht vielem, was in
diesem Buche gesagt ist, zustimmen kann, besonders der
Analyse der gegenwärtigen Situation und dem Weg ihrer
Überwindung. Hier und andernorts findet sich viel Treffendes
und Tiefes, das auch außerhalb eines thomistischen Systems
Geltung hat.

Greilswald Hans Geurg Thümmel