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Ausgabe:

1973

Spalte:

439-440

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Titel/Untertitel:

Frühmittelalterliche Studien 1973

Rezensent:

Haendler, Gert

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439

KIRCH EN GESCHICHTE: MITTELALTER

Frühmittelalterliche Studien. Jahrbuch des Instituts für
Frühmittelalterforschung der Universität Münster, hrsg. v.
K. Hauck. Bd. 4. Berlin: de Gruyter 1970. VII, 434 S.
m. Abb., 27 Taf., 2 Faltpläne 4°. Lw. DM 94,-
Der Band enthält 17 Beiträge. Der Bogen ist wieder weit
gespannt: Von „External Mosaic Decoration on Late Antique
Buildings" (E. Alföldy-Bosenbaum) bis zu denPfalzcn
im 12. Jh. Theologische Probleme spielen in den meisten
Beiträgen eine Bolle. HayoVierck berichtet über: „Cortina
Tripodis. Zu Aufhängung und Gebrauch subrömischer
Hängebecken aus Britannien und Irland" (S. 8—52). Sein
5. Kapitel ist überschrieben: „Hängebecken als Kirchengerät
" und führt zu dem Ergebnis, daß diese „in einem
Wasserritus der keltischen und später angelsächsischen
Kirche gebraucht wurden . . . Wie manch andere Tradition
der Kirche in diesem Jahrhundert wurde der Dreifuß
zweifellos aus dem spätantiken Privat- oder Staatskult in
den christlichen Bitus überführt. Kontinuität im täglichen
wie kultischen Brauch aus der Antike, durch die Völkerwanderungszeit
in das Mittelalter, nordwärts der Alpen und
des Kanals oft gesucht und selten bestätigt, hier ist sie
gewahrt" (S. 51). Bernd Beiner Voss untersucht „Berührungen
von Hagiographie und Historiographie in der
Spätantike" (S. 53—69). Es geht primär um die Martinsvita
des Sulpicius. Formal schließt Sulpicius an die klassische
römische Geschichtsschreibung an, ein Heldcnleben soll zur
Nachfolge anspornen. „Was sich geändert hat, ist das Wesen
des Helden. Es ist nicht der Feldherr oder Politiker, ist
auch nicht, wie Sulpicius nun in Abkehr von der historio-
graphischen Tradition sagt, Hcktor in seinen Kämpfen und
nicht Sokrates in seinem Philosophieren, sondern der fromme
Bischof Martin" (S. 59). Als Übergang ist die lateinische
Übersetzung der Antoniusvita des Evagrius wichtig, auch
auf Hieronymus wird verwiesen, noch Ennodius von Pavia
steht mit manchem Zug „in der Tradition der klassischen
Geschichtsschreibung" (S. 64). Bei Venantius Fortunatus
treten diese Gesichtspunkte zurück, bei Gregor v. Tours
ist die Verbindung abgerissen. Ulrich Nonn zeichnet „Das
Bild Karl Martells in den lateinischen Quellen vornehmlich
des 8. und 9. Jahrhunderts" (S. 70—137). Die älteren
Quellen urteilen positiv, Kritik klingt an in einigen Heiligen-
viten. Mit Hinkmar von Beims beginnt eine „systematisch
betriebene Verdunkelung des Karlsbildes" (S. 137); im
10. Jh. gab es auch wieder positivere Urteile. Der Ursprung
des Beinamens „Martell" bleibt weiter ungeklärt.

Ein vielschichtiges Thema untersucht Karl Hauck: „Die
Ausbreitung des Glaubens in Sachsen und die Verteidigung
der römischen Kirche als konkurrierende Herrseheraufgaben
Karls d. Gr." (S. 138 — 72). Er zeigt, wie „Karl an die
Doppelaufgaben des Tiber- und des Weserraumes gefesselt
war" (S. 145). Besonders aufschlußreich ist die Lage im
Jahre 785. Die Vita Arnulfs, des Ur-Ur-Großvaters Karls
d. Gr., wird ausgestaltet durch einen Arnulf-Segen: „Dieser
legendäre Erbsegen wird nun in einem sich steigernden
historischen Katalog von Pippin dem Mittleren über Karl
Martell, den Sarazenenbezwinger, bis zu Pippin d. J. als
Bezwinger Aquitaniens und zu Karl d. Gr., der das Franken-
reich in zuvor unbekannter Weise erweitert habe, veranschaulicht
" (S. 149). Man sucht Anschluß an die alle
trojanische Geschichte. Ein Bingwunder Arnulfs bietet eine
Gebetserhörung in Parallele zu Gideons Fellwunder: „Indem
aber der Himmel selbst Arnulf als heiligen Sünder anerkannte
wurde er 785 zum exemplarischen Leitbild der Gnadenverheißung
gegen alle Verzweiflung" (S. 159). Hauck spricht
von einem „Selbstzeugnis Karls", einem „wichtigen Beitrag
zu dem Problem Kirche und Krieg und zu dem Experiment
der Waffenmission in einem archaischen Zeitalter" (S. 159).
Auch die Beichsannalen verknüpfen 785 die Bezwingung
der Eresburg und die Zerstörung der Irminsul mit einem
Quellwunder; es ging um „die ausdrückhehe Zustimmung

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Gottes zu den folgenreichen und schwierigen Unternehmungen
Karls in Sachsen" (S. 160). Es folgen Gedanken
„Zur Selbstdarstellung der imperialen Monarchie der Franken
in der Schlußphase der Sachsenkriege, vornehmlich nach
zeremoniell-geschichtlichen Denkmälern" (S. 160 — 71). Die
Parallelisierung Karls mit Konstantin weckt das Interesse
des Theologen besonders (S. 169—72). — Karl Schmidt
sehreibt über „Die Mönchsgemeinschaft von Fulda als sozialgeschichtliches
Problem" (S. 173—200). Quelle sind die
Konventslisten und Totenlisten, die Schmid mit statistischer
Zielsetzung vergleicht. Unter Hraban gehörten 603 Mönche
zum Konvent: „Die zahlenmäßige Größe der Abtei Kuhla
übersteigt damit alle bisherigen Vorstellungen" (S. 187).
Die Methode des „Registriervergleichs" wird vorgeführt,
die „Möglichkeit des Einsatzes der nichtnumerischeii Datenverarbeitung
" befürwortet (S. 195). Die Beziehungen Fuldas
zur Sachsenmission werden deutlicher. — Peter von Moos
greift in seiner Arbeit „Gotlsehalks Gedieht O mi custos —
eine confessio" (S.201 —230) auf Augustius confessio-Begriff
zurück, jene „Verschmelzung der unverbundenen, ja widersprüchlich
scheinenden Bedeutung confessio peccali und
confessio laudis zur Identität ..." (S. 206). Die Analyse
soll im nächsten Jahrgang fortgesetzt werden. Als Zentrum
wird herausgearbeitet „die durch vielfältige Sprachklänge
beinahe psychagogisch unterstützte Bewußtwerdung des
feilx-culpa-Geheimnisses in dieser Existenz, die verzweifclt-
hoffnuugsgewisse Suche des allmächtigen Spiritus Creator,
des Wiederschöpfers von Mensch uud Erde" (S. 227).

Zwei weitere Arbeiten gelten dem sächsisch-fränkischen
Verhältnis: Gunter Müller, Das Problem der fränkischen
Einflüsse auf die westfälische Toponymie (S. 244—70), und
Georg Droege, Fränkische Siedlungen in Westfalen (S. 271 —
88). Kirchen und Klöster werden nur beiläufig erwähnt,
das Problem Sachsenmission bleibt nur im Hintergrund.
Josef Semler berichtet über „Corvey und Herford in der
benediktinischen Reformbewegung des 9. Jahrhunderts"
(S. 289—319). Nicht nur Corvey hat sieh — in Abhängigkeil
von Corbie — der Beform des Benedikt von Aniane erschlossen
, auch das Frauenkloster Herford stand im Zeichen
dieser Erneuerung, da das Mutterkloster Notre Dame de
Soissons sich im 9. Jh. dieser Richtung angeschlossen halle.
Semler verweist auf die Unterstützung der Mission Ansgars
durch „eine fest gefügte Etappenlinie" Corbie, Corvej
Herford, Turnhout, Meppen und Visbeck (S. 307). Weilen
Klöster in Niedersachsen waren nach Seinler ebenfalls von
der Reform erfaßt worden: Wendhausen, Essen, Gandersheim
, Neuenheerse, Lamspringe, Möllenbeck. Uwe Lobede)
nimmt Stellung „Zur archäologischen Erforschung west-
fälischer Frauenklöster des 9. Jh.s" (S. 320 — 40). Es gehl
um vier Grabungen, deren Berichte noch nicht vorliegen;
Lobedey fragt in allen vier Fällen nach Fundamenten, die
schon vor den jetzl ausgegrabenen Kirchen gestanden haben
(S. 325, 330, 332 und 337). Martin Last bietet einen üis-
kussionsbeitrag „Zur Einrichtung geistlicher Konvente in
Sachsen während des frühen Mittelalters" (S. 341 — 47).
Beziehungen zur nordischen Beligion weist Birgit Arrhenius
auf: „Tür der Toten. Sach- und Wortzeugnisse zu einer
frühmittelalterlichen Grähersitle in Schweden" (S. 384 — 94).
Über Grabungen in Paderborn informiert Wilhelm Winkelmann
: Die Königspfalz und die Bischofspfalz des 11. und
12. Jh.s in Paderborn (S. 398 — 415). Eine Pfalzanlage aus
der Karolingerzeit ist freigelegt, jene Ställe der Keichs-
versammlungen von 777 bis 799. „Infolgedessen empfing
Karl hier Papst Leo III. zu Gesprächen und Verhandlungen
..." (S. 400). Überwiegend freilich führen die Grabungen
zurück auf jene Bauten, die Bischof Meinwerk nach dein
Brand Paderborns im Jahre 1000 wiederaufrichten ließ. —
Informationen über neue Forschungspläne und Bildtafeln
beschließen den Band, dessen reiche Anregungen für die
Kirchengeschichte hier wenigstens kurz umrissen werden
sollten.

Koslock Gert Haendler

Theologische Literaturzeitung 98. Jahrgang 1973 Nr. (i