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Ausgabe:

1973

Spalte:

374-375

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Willis, Robert E.

Titel/Untertitel:

The ethics of Karl Barth 1973

Rezensent:

Fangmeier, Jürgen

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373

Theologische Literaturzeitung 98. Jahrgang 1973 Nr. 5

374

Den zweiten Punkt für ein kritisches Gespräch mit dem
Autor stellt für uns die fatale Verquickung von einem sogenannten
„Weltbild der modernen Physik" mit der Theologie
Barths dar. In diesem Zusammenhang ist außerdem von
einer, uns nicht ganz einsichtig gewordenen Beziehung zwischen
Melanchthon und Barth die Rede (vgl. S. 175, 180f u.
1941), Auf S. 185 bleibt sehr undeutlich, ob der Autor von
der absconditio Dei sub cruce sprechen möchte oder die mißliche
Lehre vom Dcus absconditus wieder aufleben lassen
will.

Doch wenden wir uns der genannten Verquickung zu, so
rächt sich unseres Erachtens die theologisch völlig unhaltbare
Subsumierung Gottes unter den Begriff der „Wirklichkeit
" : „The truth lies somewhere ,between' our Statements
about reality, about God" (S. 182). Es ist nun einmal theolo-
9isch unumgänglich, will man nicht unter der Hand aus
dem Evangelium eine Pseudoweltanschauung machen, die
Wahrheit Gottes von der Wirklichkeit der Welt zu unterscheiden
.

Ganz und gar daneben aber geht die Behauptung, dafj die
Forschungsergebnisse der modernen Physik „no longer per-
niit the coneeption of the world as the mere object of . . .
niaterialistic thinking and of the will of man to manipulatc
't as his pleasure" (S. 177). Zumindest im Blick auf den letzten
Halbsatz kann sich Rumscheidt auf keinen der beiden
Theologen, deren Gedanken und Intentionen er für gegenwärtige
Überlegungen fruchtbar machen möchte, berufen.
Was Harnack anbetrifft, so treibt er - obwohl in einer idealistischen
Weltanschauung verhaftet - Geschichte, „um in den
Gang der Geschichte einzugreifen", weil nach seiner Ansicht
den Menschen keine Arbeit ziemt, „die ihn nicht zum Handeln
und zur T a t befähigt" (Reden und Aufsätze IV, S. 7).

Etwas ausgeführter: „Wir treiben Geschichte, . . . um uns
von der Vergangenheit zu befreien, wo sie zur Last geworden
lst, . . . um in der Gegenwart das Richtige tun zu können, . . .
Urn die Zukunft umsichtig und zweckmäßig vorzubereiten"
(a. a. O., S. 172). Von einer Position aus, wie Rumscheidt sie
einnimmt, wird man folgerichtig auf ein solches Programm
von vornherein verzichten müssen.

Auch auf Barth wird sich der Vf. bei seinem Hang zur
sogenannten „modernen Physik" kaum berufen können. In
KD m/3 z. b. wird zwar von Karl Barth in bezug auf die
Gotteserkenntnis jede Erkenntnis von Gesetzen in Natur
und Gesellschaft theologisch relativiert, doch stellt er dem
gleichzeitig solche Sätze an die Seite, die der bei R. sich abzeichnenden
Intention deutlich entgegenstehen. So kann
Barth etwa sagen: „Es besteht kein Grund, sie (die von den
Menschen erkannten Natur- und Gcscllschaftsgesctze, d. Vf.)

. nicht für praktisch gültig und insofern für in allem Geschehen
wirksam zu halten" (KD HI/3, S. 143).

Was uns der Autor hier als neue Erkenntnis der Physik
anbietet, die dann auch auf dem Gebiet der Theologie ihre
Anwendung finden sollte, hat ein sehr bedeutender Mann
bereits im Jahre 1908 im Rahmen einer umfassenden Auseinandersetzung
folgendermaßen charakterisiert: „Eine Minderheit
der modernen Physiker ist unter dem Eindruck des
durch die großen Entdeckungen der letzten Jahre hervorgerufenen
Zusammenbruchs der alten Theorien, unter dem
Eindruck der Krise der modernen Physik, die besonders anschaulich
die Relativität unseres Wissens gezeigt hat, infolge
der Unkenntnis der Dialektik über den Relativismus zum
Idealismus hinabgeglitten. Der zur Mode gewordene physikalische
Idealismus ... ist eine ebenso reaktionäre . . . Leidenschaft
wie der modische physiologische Idealismus der
Jüngsten Vergangenheit." Man könne „hinter der erkenntnistheoretischen
Scholastik . . . den Parteienkampf in der
Philosophie . . . sehen, einen Kampf, der in letzter Instanz
die Tendenzen und die Ideologie der feindlichen Klassen
der modernen Gesellschaft zum Ausdruck bringt".

Berlin Carl-Jürgen Kaltenborn

Willis, Robert E.: The Ethics of Karl Barth. Leiden: Brill
1971. X, 456 S. gr. 8°. Lw. hfl. 68.-.

Willis' Studie ist die Endgestalt seiner Doktor-Dissertation
am Theologischen Seminar San Anselmo in San Francisco.
Von den sieben Kapiteln des Buches ist das erste der Entwicklung
und das letzte der zusammenfassenden Kritik der
Barthschen Ethik gewidmet; die fünf mittleren verbinden
systematische Darstellung und kritische Betrachtung. Der
Vf. konzentriert sich auf die Kirchliche Dogmatik und stellt
Barths Ethik in ihrem strengen Kontext zur Dogmatik dar.
Seine Darstellung ist von erfreulicher Klarheit, so daß man
sich wundert, wie in der Beurteilung Barths der Tadel der
Unklarheit eine fast dominante und ermüdende Rolle spielt.
Der Vf. fragt sich m. E. zu wenig, inwieweit nicht die bei
Barth auf Schritt und Tritt festgestellte „ambiguity" (bzw.
ähnliche Wendungen für Zweideutigkeit, Dunkelheit, Ungereimtheit
) entweder, doch, in mangelnder Durchdringung
seitens des Kritikers oder aber in der Natur der Sache liegt,
d. h. zur Dialektik der Theologie gehört - z. B. beim Verhältnis
zwischen göttlichem Gebieten und manifestem Gebot
. Vielleicht neigt jeder dazu, im Denken des andern wesentlich
weniger Spannung zu verkraften als im eigenen
Denken. - Die Kritik des Autors konzentriert sich auf die
Begriffe transcendentalism und a c t u a 1 i s m: Ihm
sind der je gebietende Gott wie der je zu Erkenntnis und
Gehorsam erschließende Heilige Geist fremde und ärgerliche
Theologumena; ebenso die Erhebung der Grundlinien
der ganzen Anthropologie von der Christologie her, wiewohl
die diesbezügliche Darstellung mit innerem Zugang
rechnen läßt. Zu unklar und schwach findet Willis bei Barth
den Raum für Vernunft und Empirie. „For if the assertion
that the command is definite and self-interpreting down to
the last detail ist taken literally (as Barth clearly intends),
then any possibility of giving attention to factors in a Situation
which are relatively ,non-theological' (i. e., political,
economic, sociological, psychological), and any discussion
of .options', is excluded from the outset" (S. 200). Christliche
Ethik „beyond Barth" hätte sich wieder stärker an der Theologie
des 19. Jh.s, von Schleiermachcr bis Troeltsch, zu orientieren
(S. 448). Als gutes, wenn auch nicht vollkommenes
gegenwärtiges Beispiel für theologisches Sich-Einlassen auf
nichttheologische Disziplinen nennt er Paul van Burens ,The
Secular Meaning of the Gospel", mit dem Versuch, theologische
Lehre mit Hilfe der Linguistik zu durchleuchten (und
anthropologisch umzusetzen). Willis weist seinerseits Veränderung
des genuin theologischen Ansatzes Barths verbauter
ab. Ihm haftet aber auch der Kirchlichen Dogmatik noch
zuviel von der Diastase des Römer-Kommentars an (vgl.
z. B. S. 443) und zuwenig vom Erdgeruch der .Menschlichkeit
Gottes'. Willis appelliert an Möglichkeiten, to „bring
theology into a more direct and dynamic relation with the
füll spectrum of human endeavor" (S. 448). Anzudeuten, ob
und wie er selbst zu einer luzideren theologisch-ethischen
Konzeption gelangte, vermag und beansprucht er mit diesem
Buch nicht (vgl. S. 448).

Willis' Arbeit ist etwa gleichzeitig mit F. W. Marquardts
.Theologie und Sozialismus. Das Beispiel Karl Barths' (München
und Mainz 1972) erschienen. Zwei Welten! Dort noch
die auf unserem Kontinent altbekannte Klage über den K.
Barth, der mit seinem theologischen Ansatz nie ganz auf
den Boden der Wirklichkeit gekommen sei. Hier der Satz:
„Karl Barth war Sozialist" (Marquardt S. 39) als entscheidende
Prämisse für das Verständnis von dessen Theologie.
Beide Autoren haben ihre extrem verschiedenen Resultate ohne
Berührung miteinander erarbeitet. Dabei ist es ein Vorzug
der Arbeit von Willis, daß er die Barth-Literatur des englischen
Sprachraums (wie A. Come, Th. F. Torrance, Ch. C. West,
J. H. Yoder) verarbeitet. Ein Schaden aber, daß er von der
gegenwärtigen Erschließung des frühen Karl Barth für sein
Werk noch kaum etwas mitbekommen hat. Von Barths Sa-
fenwiler Zeit hat er nur blasse und verschwommene Anschau-