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Ausgabe:

1973

Spalte:

359-361

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Zur Mühlen, Karl-Heinz

Titel/Untertitel:

Nos extra nos 1973

Rezensent:

Koch, Ernst

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359

Theologische Literaturzeitung 98. Jahrgang 1973 Nr. 5

360

Mühlen, Karl-Heinz zur: Nos extra Nos. Luthers Theologie
zwischen Mystik und Scholastik. Tübingen: Mohr 1972.
IX, 298 S. gr. 8" = Beiträge zur historischen Theologie,
hrsg. v. G. Ebeling, 46. DM 49.-; Lw. DM 56.-.

Der Titel dieser Arbeit aus der Schule Gerhard Ebelings
entstammt einem Satz aus dem Großen Galaterkommentar
Luthers von 1531/35: Ideo nostra theologia est certa, quia
ponit nos extra nos (WA 40 I 589, 4; in der vorliegenden
Arbeit zitiert S. 221).

Die Arbeit stellt sich als Ziel, Entstehung und Bedeutung
der für die Theologie Luthers und für das von ihr herkommende
Denken so zentralen Formel extra nos zu klären. In
streng historischer Arbeitsweise, die sich an keiner Stelle
in Nebensächlichkeiten verliert, wird der Vorgeschichte der
Formel zur Zeit der Sentenzenlektur (1509/10) (Kap. I), zur
Zeit der 1. 'Psalmenvorlesung (1513/15) (Kap. II), der Entstehung
und Bedeutung der Formel zur Zeit der Paukisexegese
1515/18) (Kap. III) und der Bedeutung der Wendung zur Zeit
der Präzisierung und Entfaltung von Luthers Theologie 1517f
(Kap. IV) nachgegangen. Jedes Kapitel schließt mit einer
Zusammenfassung, die als Wegweiser dienen kann. Für den
Vf. bleibt auf allen Stufen der Untersuchung das Verhältnis
der Unterscheidung von verbum internum und externum
und von homo interior und exterior für Vorgehen und Klärung
des Problems konstitutiv.

Er entdeckt in der frühesten uns greifbaren Periode der
theologischen Arbeit Luthers eine auf den ersten Blick unproblematische
, bei genauer Betrachtung jedoch vorausweisend
eigenständige Interpretation der Tradition. Der Rückgriff
über die ockhamistische Tradition hinaus auf Augustin
durch Vermittlung des Lombarden führt zu einer Vertiefung
der Anthropologie: die Erbsündenlehre wird radikaler gefaßt
- das, was der Erbsünde ihr Gewicht verleiht, ist, dafj
der Mensch unter dem Urteil Gottes steht; Vf. spricht hier
von der Coram-Struktur im Denken des jungen Luther -; das
liberum arbitrium gerät in die Spannung von Sünde und
Gnade und verliert seinen Vorrang an die Gnade, die damit
gleichzeitig auch an Externität gewinnt und deren Verständnis
als gratia habitualis bestritten wird; der metaphysischpsychologische
Aspekt der Unterscheidung von homo interior
und exterior steht nicht mehr unverbunden neben dem exi-
stential-theologischen Aspekt, sondern die zweite Betrachtungsweise
wird zum Verstehenshorizont der ersten. Dieser
Entwicklung korrespondiert ein neues Verständnis des verbum
exterior, das an Rom 10,17 gewonnen wird: verbum
praedicatum und gratia infusa werden stärker aufeinander
bezogen. Die antike Signifikationshermeneutik wird im Ansatz
durchbrochen durch die Erkenntnis des Geschehens- und
Wirkcharakters des Wortes.

Zur Zeit der 1. Psalmenvorlesung sieht Vf. diese Ansätze
fortgeführt und profiliert. Schärfer kritisiert wird die gratia
habitualis, die nur eine akzidentelle Veränderung des Menschen
bringt. „Luthers Verständnis von Sünde und Gnade
zielt aber gerade auf die Veränderung des sündigen Selbst
des Menschen" (49). Diese Gnade kommt von außen zum
Menschen in der Weise des göttlichen Urteils. „Was von
Gott kommt, wird nur vor Gott zuteil" (50). Wirksam im
Menschen wird sie in der humilitas fidei, die in sich selbst
die Vollkommenheit ist und beständig an der mortificatio
carnis arbeitet. Christus ist literaliter als iustitia Dei und Judicium
Dei außerhalb unser selbst, tropologice in der humilitas
fidei in uns das Werk Gottes. Das bedeutet, daß die weitere
Profilierung der Anthropologie durch die tropologische
Deutung des Geschickes Christi gewonnen wird. Ontologisch
drückt sich dieser Vorgang bei Luther in der bereits erwähnten
Coram-Struktur aus. Im Wortverständnis ist, wie Vf. in
ausführlicher Untersuchung nachweist, in der Einführung
der Inhaltsunterscheidung von Gesetz und Evangelium eine
weitere Ablösung von Augustin erkennbar. Jetzt beantwortet
Luther die Frage nach verbum internum und externum in
neuer Qualität gegenüber der Tradition. Die Differenz zur

antiken Signifikationshermeneutik wird zunehmend stärker.
In dieser Phase des theologischen Nachdenkens Luthers geschieht
die für den vorliegenden Zusammenhang gewichtige
terminologische Klärung in der Exegese von Ps 115,11, die
Vf. eingehend untersucht. Hier nimmt Luther den Terminus
excessus mentis als extasis aus der mystischen Tradition auf,
deutet ihn aber um. Freilich begegnet bei Luther an dieser
Stelle lediglich die Wendung supra se. Die Weichen zum
folgenden sind jedoch gestellt.

Die Formel extra nos begegnet erstmalig im Scholion zu
Rom 1,1. Diese sprachlich der Mystik Taulers entstammende
Wendung bringt für Luther die weitere, eigentlich „reformatorische
" Klärung seiner Bußtheologie. Aus der Identität
von fides und humilitas wird ein strenges Nacheinander.
Daraus erwächst eine radikale Kritik der scholastischen
Theologie, die sich auf den Sündenbegriff (die Sünde bleibt,
wird aber von Christus beherrscht und anfangsweise beseitigt
), die Lehre von Gesetz und Gnade und die Anthropologie
(Unterscheidung von opus und persona) auswirkt. Die Gerechtigkeit
Gottes „subsistiert nicht in uns, sondern wir sub-
sistieren in ihr, indem wir im Glauben extra nos in sie versetzt
werden" (149). Der Mensch kommt nicht mehr in den
Blick in Hinsicht auf das, was er tut, sondern in Hinsicht auf
sein Sein vor Gott. Für das Verständnis des Wortes tritt ab
1517 der promissio-Begriff in den Vordergrund. Freilich
sieht in dieser Periode seines Denkens Luther das Verhältnis
von verbum externum und internum noch immer lediglich
unter dem Stichwort des Simul. Vf. bezeichnet es als „das
Merkwürdigste", daß Luther seine schärfste Waffe im Kampf
gegen die schwärmerische Mystik - die Betonung des verbum
externum - dem Sprachgebrauch und Vorstellungsarsenal
gerade der Mystik entnommen hat (163).

Für den Luther der Zeit nach 1517 wird der Gehalt der
(übrigens bis 1521 nicht sehr häufigen) Wendung extra nos
zu einer impliziten Voraussetzung der Kritik am römischen
Sakramentsverständnis. Wichtig wird Luther zunehmend die
Externität der Sakramente. Ja, jetzt erst weicht seine bisherige
Scheu vor dem Sakrament. Nun klärt sich auch mehr und
mehr das Verhältnis von iustitia extra nos und in nobis, da
„im Zugleich von Glaube und Liebe, von Glaube und Demut
ein Folgeverhältnis sichtbar" wird (190). Vf. weist darauf
hin, wie nun auch das von der Tradition vorgegebene Sprachmaterial
in den Einflußbereich der sich auftuenden Sachdifferenzen
gerät. Die erneute Deutung von Ps 115,11 durch Luther
im Jahre 1519 zeigt, wie bewußt die Aufnahme mystischer
Sprache zur explizierten Kritik an der mystischen
Theologie, vor allem des Areopagiten führt. In der Auseinandersetzung
mit Latomus und dem Humanismus bewährt
Luther in der jeweiligen Frontstellung das Verständnis der
Gnade als des extra nos vorgegebenen Heils in Christus. Die
Wendung nos extra nos ist die „präzise Fassung der Wendung
extra nos, denn sie deckt das Sein des Menschen als
Sein extra se auf, welches sich Gott schlechterdings als sein
Werk vorbehalten hat" (222).

Für Luthers Wortverständnis ab 1517 bedeutet das, „daß
das verbum externum die entscheidende Verstehensbcdin-
gung des verbum internum wird" (227). Freilich bringt erst
die Auseinandersetzung mit Erasmus, Karlstadt, Müntzer,
Zwingli und den Oberdeutschen die Erkenntnis der notwendigen
Vermittlung des verbum internum durch das verbum
externum. Diese Erkenntnis ist für Luther durch ein soterio-
logisches Interesse bedingt, wie Vf. an der Darstellung der
theologischen Motive Luthers in diesen Auseinandersetzungen
nachweist. In diesen Auseinandersetzungen, in denen
Luther endgültig von der antiken Signifikationshermeneutik
abrückt, klärt sich auch mehr und mehr Luthers Sakramentsverständnis
.

Die Unterscheidung von homo interior und exterior tritt
bei Luther nach 1517 mehr und mehr zurück. „Denn Glaube
bzw. Unglaube der Person entsprechen der Interpretation
von innerem und äußerem Menschen als zwei einander sich