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Ausgabe:

1973

Spalte:

339-340

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Grieshammer, Reinhard

Titel/Untertitel:

Das Jenseitsgericht in den Sargtexten 1973

Rezensent:

Westendorf, Wolfhart

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Seite 1

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339

Theologische Literaturzeitung 98. Jahrgang 1973 Nr. 5

340

RELIGIONSWISSENSCHAFT

Grreshammer, Reinhard: Das Jenseitsgericht in den Sargtexten
. Wiesbaden: Harrassowitz 1970. VIII, 188 S. gr. 8° =
Ägyptologische Abhandlungen, hrsg. v. W. Helck u. E.
Otto, 20. DM 40,-.

Sinnbild der altägyptischen Idee vom Totengericht ist die
Waage, auf der vor dem Gerichtshof des Gottes Osiris das
Herz des Toten gewogen und sein sittliches Verhalten auf
Erden geprüft wird. Diese Idee eines nach ethischen Normen
urteilenden Jenseitsgerichts liegt in ihrer klassischen Form
jedoch erst seit dem Anfang des Neuen Reiches {18. Dynastie,
Mitte des 2. Jahrtausends v. Chr.) als Kernstück einer Sammlung
von Sprüchen vor, die dem Toten beigegeben wurden
und ihm zum Eingehen in die Gefilde der Seligen verhelfen
sollten. In dieser Spruchsammlung, von uns „Totenbuch"
genannt, ist das Totengericht als 125. Kapitel gezählt.

Die Idee eines Jenseitsgerichtes ist jedoch wesentlich älter
: sie reicht bis in das Alte Reich zurück (4. Dynastie, Mitte
des 3. Jahrtausends v. Chr.). Doch wird dieses Gericht nicht
als eine allgemein verbindliche Institution verstanden, vor
der sich jeder Tote zu rechtfertigen hat, sondern als ein ins
Jenseits übertragener Gerichtshof, der unter Vorsitz eines
Gottes Rechtsstreitigkeiten zwischen dem Toten und seinem
Prozeßgegner (etwa einem Grabschänder) verhandelt, also
fallweise und auf Grund einer Anklage in Aktion tritt.

In den rund eintausend Jahren zwischen dem ersten Auftreten
des Jenseitsgerichtes und seiner endgültigen Ausprägung
als Totengericht fehlt es nicht an Belegen für die Umwandlung
und Ausweitung des juristisch fungierenden Gerichtshofes
in das nach ethischen Normen jeden Toten beurteilende
Totengericht. Die Ansätze dieser Umformung liegen
offenbar schon in der 5. Dynastie. In diese Zeit zwischen den
eingangs markierten Daten gehört auch eine Gruppe von
Texten, die auf Särgen von Privatleuten geschrieben ist und
daher von uns „Sargtexte" genannt wird. Diese Textgruppe
liegt in sieben stattlichen Bänden seit rund einem Jahrzehnt
publiziert vor, ist aber als Quelle für die religiösen Vorstellungen
dieser Zeit (Wende vom 3. zum 2. Jahrtausend v. Chr.)
noch längst nicht voll ausgeschöpft. Die Sargtexte stehen
ihrem Inhalt nach zwischen den Pyramidentexten des
ausgehenden Alten Reiches und den Sprüchen des Totenbuches
; sie bilden also für unsere Fragestellung gleichsam
einen Brennpunkt, weil Wandlungen der Anschauungen oder
jedenfalls deren Stationen sich in diesem Corpus finden lassen
sollten.

Die Aufgabe, diese umfangreiche Textgruppe auf die Frage
nach dem Vorhandensein, nach Art und Wirkungsweise eines
Jenseitsgerichtes zu untersuchen, hat Reinhard Grieshammer,
Heidelberg, in seiner Abhandlung „Das Jenseitsgericht in
den Sargtexten" in vorbildlicher und umsichtiger Weise erfüllt
. - Da der Text des 125. Kapitels des Totenbuches in den
Sargtexten noch nicht auftritt, entfiel die Möglichkeit, aus
dem Vergleich zweier Texte aus verschiedenen Zeiten auf
die inzwischen erfolgten Veränderungen zu schließen. Vielmehr
mußte das Bild des Jenseitsgerichts aus zahlreichen
Einzelstücken aus verschiedenen Zusammenhängen gewonnen
werden; nur selten ließen sich ganze Textpartien einschlägig
verwerten. Um den Blick nach beiden Richtungen
offen zu behalten, registrierte Grieshammer „jede Gelegenheit
, bei der Tote vor einem göttlichen Gericht erscheinen",
d. h., es wird das ganze Spektrum vom Prozeßgericht des
Alten Reiches bis zum ethisch bestimmten Totengericht des
Neuen Reiches erfaßt.

Dabei stellt sich heraus, daß der Rechtsstreit vor einem
Jenseitsgericht noch immer ausgiebig vertreten ist (S. 11-43).
Der Prozeßgegner wird aber in erster Linie nicht auf der
Erde lokalisiert, sondern als anonymer „Feind" in der Ne-
kropole selbst; sein Vergehen ist ähnlich anonym und durch
allgemeine Wendungen umschrieben. Die Lokalisierung des
»Feindes" durch die Angabe „im Himmel, in der Erde, in der

Nekropole" begrenzt dessen Aktionsfeld auf die Jenscitsge-
filde. - Selbst die Texte, in denen das Unrecht offenbar darin
bestand, daß ein verstorbener Vater veranlaßte, seinen Sohn
zu früh ins Jenseits zu holen, betreffen zunächst Jenseitsbelange
(Einsetzung des Sohnes als Erben und Nachfolger im
Jenseits; Bestrafung des „Feindes", der den frühzeitigen
Tod bewirkt hat). - Die Absetzung der im Jenseitsgericht
erlangten Rechtfertigung von profanen irdischen Rechtsstreitigkeiten
und die Ausweitung zu einem allgemein verstandenen
Zustand der Rechtfertigung im Jenseits zeigen die
Textstellen, in denen Beziehungen zu den Göttern Horus
oder Osiris hergestellt werden (S. 43). Diese Götter haben in
einem mythischen Präzedenzfall zwar auch im Gericht ob-
siegt, hinter dieser ritualisierten Zuweisung des Triumphes
über die Feinde durch ein Göttergericht steht aber wohl ursprünglich
die Idee der Überwindung des Todes und der Beginn
eines geläuterten und gesicherten Lebens im Jenseits,
das der sich „Osiris" titulierende Tote NN ebenso anstrebt.

Gegenüber den Hinweisen auf den Prozeß vor einem Jen'
Seitsgericht (das neben dem Toten einen zweiten Prozeßpart'
ner als Ankläger oder Angeklagton voraussetzt) sind die
Zeugnisse für das allgemeine Totengericht, in dem der Tote
grundsätzlich der Angeklagte ist und die Göttin „Gcrcchtig'
keit/Ordnung/Wahrheit" (ägyptisch: Maat) seine Partnerin,
in der Minderheit. Sie reichen jedoch aus, die vom

Totenbuch

Kapitel 125 bekannte Szene zu erkennen. Von der Waage ist
die Rede, mit der die Götter Re oder Thot hantieren (S. 46).
Auch das Herz des Toten ist erwähnt, dessen verräterische
Aussage der Tote im späteren Totenbuch zu verhindern
sucht (S. 51). Als Vorläufer des sogenannten „negativen Sün-
denbekenntnisses" finden sich Aussagen des Toten, in denen
er negative Qualitäten zu besitzen verneint (S. 59).

Die Idee eines für jeden Toten verbindlichen TotengericWs
im Jenseits ist in anderen zeitgenössischen Quellen (z- ™
Lehre für Merikare, Biographien) gut bezeugt. Daß diese
Idee nur zögernd in die Totenliteratur eingeht und auch nicht
als ein ins Jenseits transponiertes Gericht verstanden sein
will, erklärt Grieshammer wohl zu Recht mit der Furcht, in
einem solchen Gericht unter Umständen zu unterliegen (*
112). Stattdessen bevorzugt man die altbewährte Form des
katechisierenden Verhörs, auf dessen Fragen es feststehende
Antworten gab, die man nur kennen mußte, um ins Jenseits
zu gelangen. Solche Verhöre (etwa durch einen dämonischen
Türhüter) wurden aber offenbar als Teile eines Cerichtsver-
fahrens verstanden.

Mit dem Durchbruch der Idee des Totengerichts hat der
Ägypter sich frei gemacht von der für viele bedrückenden
Vorstellung, daß nur der kultisch ordentlich bestattete Tote
Aussicht hatte, das Jenseits zu betreten. Die neue Idee, naC"
der nur der nach der ethischen Ordnung Lebende die Aussicht
hatte, das Totengericht als „gerechtfertigt" zu verlas'
sen, war gewiß nicht weniger bedrückend, denn das Bewußt
sein der Sündhaftigkeit des Menschen war inzwischen ef
wacht. Der Versuch, angesichts des fast unerfüllbaren An'
Spruchs der Maat auf das Gerichtsverfahren einzuwirken
und die Rechtfertigung durch beschwörende Texte zu erzwin
gen (S. 62-63), erscheint verständlich, ging es doch um nicht*
weniger als um die Jenscitsexistenz.

Das Totengericht nimmt eine zentrale Stellung innerha'
des Jenseitsglaubens ein. Uns erstmalig gesichertes Matcri*
aus älteren Totentexten und glaubhafte Antworten auf d'e
Frage nach der Entstehung dieser Idee an die Hand gegeben
au haben, ist das große Verdienst von Grieshammer, wofür
ihm Agyptologcn, Theologen und Religionshistoriker dan*
bar verpflichtet sein werden (wobei es der eilige Leser be
grüßen wird, daß er durch das klare Inhaltsverzeichnis'
durch das Stellenregister und durch die Indiccs rasch an Ein
zelfragen herangeführt wird).

Göttingen WolFhart Westendorf