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Ausgabe:

1973

Spalte:

215-217

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Titel/Untertitel:

Humanität und Herrschaft Christi 1973

Rezensent:

Krusche, Günter

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Theologische Literaturzeitung 98. Jahrgang 1973 Nr. 3

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fessionen einreiht, die nicht genug von welchem Ansatz auch
immer her gestärkt werden kann, nämlich in die Tendenz:
mehr Vernunft und wissensmäßige Einsicht in die moraltheologischen
Probleme hineinzubringen (S. 60, 218, 260; vgl.
S. 76ff. und S. 216f. zum Problem des Kompromisses um der
Liebe willen).

Berlin Hans-Georg Fritzsche

Asheim, Ivar (Hrsg): Humanität und Herrschaft Christi. Zur

ethischen Orientierung heute. Aus der Arbeit der Theologischen
Kommission des Lutherischen Weltbundes 1964 bis
1969. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht (1969). 224 S.
8°. Kart. DM 11.-.

Gerade rechtzeitig zur Vorbereitung auf die V. Vollversammlung
des Lutherischen Weltbundes (LWB) erschien dieses
Studiendokument, das aus der Arbeit der Theologischen
Kommission des LWB seit der IV. Vollversammlung in Helsinki
hervorgegangen ist. Dort war als Studienthema festgelegt
worden: „Das Ringen um wahres Menschsein und die
Herrschaft Christi". Es sollte dabei vor allem um ethische,
genauer sozialethische Fragen gehen, einen Komplex, der in
der lutherischen Theologie der jüngeren Vergangenheit viel
zu wenig Berücksichtigung gefunden hat, in der Phase der
Bewußtwerdung weltweiter Verantwortung für die Zukunft
der Menschheit aber erhöhte Bedeutung gewinnt. Es fällt
auf, daß die Sozialwissenschaften zwar berücksichtigt, aber
nicht ausführlich zu Wort gekommen sind, ebenso fehlt ein
für die „Dritte Welt" charakteristischer Beitrag. Diese Feststellung
spricht jedoch nicht gegen die Qualität der einzelnen
Studien. Vielmehr ergibt sich eine Frage an die Arbeit der
Theologischen Kommission, ihre Struktur und ihren Horizont
. Aber da es sich nur um einen ersten Beitrag zu einer
(sozial-)ethischen Neuorientierung handelt, wäre es auch
nicht im Sinne der Herausgeber, diese Studien als letztes
Wort lutherischer Theologie aufzufassen.

Dieses Studiendokument setzt neue Akzente. Dies erweist
schon Studie A „Humanität als christliche Verantwortung"
(15ff.), die aus der Zusammenarbeit des Direktors der Theologischen
Abteilung des LWB, Ivar Asheim, mit anderen
Mitarbeitern erwachsen ist. Sie setzt ein bei der Frage: „Was
ist der Mensch?" (15) und eröffnet damit den weiten Horizont
, in dem allein Sozialethik heute betrieben werden kann.
Hier ist alle konfessionalisrische Enge überwunden, statt
dessen öffnet sich die theologische Diskussion dem Humanitätsproblem
, der Welt der Wissenschaft, dem sozialen Wandel
und der globalen Dimension. „Die Verwirklichung der
Humanität des Menschen" kann auf dieser Basis als „gemeinsame
Aufgabe christlicher und außerchristlicher Ethik" verstanden
werden (23ff.), ohne daß dadurch der Unterschied
zwischen dem Allgemeinmenschlichen und dem spezifisch
Christlichen nivelliert werden müßte. In einer ersten Thesenreihe
werden „die Gültigkeit der Herrschaft Christi" und
„der Anspruch der Weltwirklichkeit" in ihrer Korrelation
entfaltet. Gerade so ergibt sich die dialogische Struktur der
ethischen Entscheidung zwischen der Freiheit durch das Evangelium
und der Bindung durch die jeweils gegebene Situation
. Daraus folgt auch die Notwendigkeit der Kooperation
mit allen Menschen guten Willens. Dem Kundigen ergeben
sich an dieser Stelle erstaunliche Analogien zur lutherischen
Begründung der Ethik in „Von der Freiheit eines Christenmenschen
", so wie es überhaupt Kennzeichen des Studiendokuments
ist, daß der traditionelle lutherische Ansatz keineswegs
verleugnet, aber dynamisch offen interpretiert wird,
so daß die dem Luthertum oft - zu Recht - nachgesagte
statische Weltsicht überwunden scheint.

Dies zeigt sich exemplarisch an der Erörterung der sog.
„Zwei-Reiche-Lehre" (30ff.). Das Mißverständnis dieser Lehrmeinung
(Gefahr der Privatisierung des Glaubens, Anerkennung
der „Eigengesetzlichkeit" des gesellschaftlichen Bereichs
) wird, ebenso wie ihre Leistung, herausgestellt. I"1
folgenden wird aber der traditionelle Gegensatz zur „Lehre
von der Herrschaft Christi" als Scheingegensatz erwiesen und
damit abgebaut. So gewinnt die lutherische Sozialethik eine
„Perspektive für den Dialog" (46) und einen Ansatz für eine
Ethik, „wie wir sie heute brauchen" (47), eine Ethik der sozialen
Strukturen, des Wandels und der Planung, der sozialen
Aktion und der Freiheit (48).

Zum Thema „Revolution" werden ebenfalls neue Impulse
vermittelt. Sie wird, bei aller gebotenen Zurückhaltung, als
ultima ratio denkbar. „Wenn Revolutionen als ein Bestreben
zu verstehen sind, das auf Ermöglichung eines höheren Maßes
an Freiheit abzielt, wäre ferner zu fragen, ob solche Bestrebungen
nicht auch ihre geschichtlichen Wurzeln im christlichen
Glauben haben" (63). Auch für „die Rolle der Kirche
im politischen und sozialen Leben" (71ff.) finden sich nicht-
herkömmliche Definitionen i „konstruktiver Kritiker" (72)
und „Pionier" (73). Die Studie schließt mit der kritischen Frage
: „Die Kirche - Stätte und Instrument der Freiheit?" (78)
und dem Hinweis auf die Dynamik der neutestamentlichen
Verkündigung: „Denn zuletzt geht es um die Glaubwürdigkeit
der Kirche und die Frage danach, ob in ihrer eigenen
Mitte etwas von der befreienden Macht des Evangeliums zu
spüren ist" (80).

Diese Überblicksstudie hat Maßstäbe für eine dynamische
und situationsgerechte lutherisch-ökumenische Sozialethik
gesetzt. Innerhalb dieses Rahmen erhalten auch die folge"'
den Beiträge ihre Bedeutung. Die aus Schweden stammende
Studie B „Humanität als Kriterium" (84ff.) weitet das Liebesgebot
Jesu auf die Bereiche der Gesellschaft aus. Dabei setz'
sich der Vf. kritisch mit den Methoden der ökumenischen
Sozialethik (vgl. Sagorsker Bericht in: ökumenische Diskussion
1968 2) auseinander. Er fordert ein teleologisches Modell
, das klare Zielvorstellungen ermöglicht, die für den Bereich
der sozialen Planung unerläßlich sind. Außerdem plädiert
er - wichtig für die theologische Grundlagcndiskus-
sion - für eine Verankerung der Sozialethik vor allem i"1
Ersten, nicht allein im Zweiten Artikel (95). Auch in diesem
Beitrag werden Humanum und Christianum nicht alternativ
verstanden: „Für den Christen ist die Humanität im volle"
Sinne in Jesus Christus offenbart. Das Humane und das
Christliche sind letztlich miteinander identisch" (102).

Studie C „Christsein in nachchristlicher Gesellschaft ■
(105ff.) stammt aus der DDR und macht, gerade im BefflU-
hen um theologische Reflexion der spezifischen Situation
Übereinstimmung mit dem gesamtlutherischen Gesprächsstand
sichtbar: auch hier Abrücken von der starren Entgegensetzung
von Zwei-Reiche-Lehre und Herrschaft-Christi'
Lehre (106), auch hier Öffnung des Christianum für das Humanuni
, auch hier Einsicht in die Notwendigkeit der Koope'
ration aller Verantwortlichen, freilich auch kritische Einschätzung
der realen Möglichkeiten. Beachtenswert sind die
Ausführungen zum Thema „Ideologie" (113ff.). Dieser Fra'
genkreis ist bisher noch nicht umfassend in ökumenische"
Studien zur Sprache gekommen. Aus der gegebenen Situation
stammt auch die Erkenntnis der besonderen Bedcutu"9
der Gemeinde für die Verantwortung des Christen in „nac"'
christlicher" Zeit (117ff.). Es wird noch zu untersuchen sei"'
ob die Wendung „nachchristliche Gesellschaft" theologis^
legitim ist.

In Studie D „Die Reichweite der Herrschaft Christi" (1200'
die in den USA erarbeitet wurde, wird der Begriff „Herrschaft
Christi" untersucht, zunächst vom NT her (133ff.), dann in dc>
späteren christlichen Interpretation (138ff.) und bei Luthef
in der Auseinandersetzung mit Erasmus (142ff.), um schließ
lieh seine Bedeutung in der heutigen Welt zu untersuch^
(145ff.). In einer großangelegten Meditation über Kol 1 wlf.
noch einmal der weltweite Horizont der Herrschaft Chris''
aufgewiesen, so daß für das Verständnis von Studie E„Hu>"a
nität in anderen Religionen" (190ff.) der Grund gelegt >s'